Weinen wie Kafka

Entscheidung und Lüge: Wilhelm Genazino liest im Literaturhaus aus seinem Roman „Die Liebesblödigkeit“

Kennen Sie Kafka? Sicher nicht so gut, wie ihn Wilhelm Genazino kennt. Denn der 1943 geborene Heidelberger Georg-Büchner-Preisträger des vergangenen Jahres kann in nur drei Kafka-Sätzen sechs Lügen entdecken. 1913 schrieb Kafka an Felice Bauer: „Tagebuch führe ich überhaupt keines, ich wüßte nicht, warum ich es führen sollte, mir begegnet nichts, was mich im Innersten bewegt. Das gilt auch, wenn ich weine wie gestern in einem Kinematographentheater in Verona. Das Genießen menschlicher Beziehungen ist mir gegeben, ihr Erleben nicht.“

Wo Kafka geschwindelt hat und warum, darum soll es hier nicht gehen. Sondern darum, wie genau Genazino, der jetzt im Literaturhaus liest, hinsehen kann. Sein im Herbst vorigen Jahres erschienener Band Der gedehnte Blick – hier findet sich auch der Kafka-Essay – ist das schönste Beispiel dafür. Hier dehnt sich alles, ohne an Schärfe zu verlieren: Blick, aus dem Sprache wird. Sprache, aus der Literatur entsteht.

Die Gattung des Essay, dieses elegante, nicht unbedingt zielgerichtete Umherwandern, hat Genazino neu beseelt. Von Kafka über Joseph Conrad, von Egon Krenz zu Robert Walser: Im Hürdenlauf stürzt sich Genazino ins Gedankenabenteuer, Kopfspagat inklusive – um zu folgern: „Literatur ist der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen.“

In diesen Tagen erscheint ein neues Buch von Genazino, das Die Liebesblödigkeit heißt und dessen Held zwischen Judith und Sandra zu wählen hat. Nach langen Jahren einer glücklichen Ménage à trois kippt die Stimmung: Er will sich entscheiden. Judith oder Sandra? Sandra oder Judith? Oder keine von beiden? Man wird es – vielleicht – erfahren. Und bemerken, dass des Protagonisten Entscheidungsneurose nichts mit Frauen zu tun hat.

Marc Peschke

Do, 3.2., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38