Schiedsrichter: Letzte Mohikaner der Ethik

Der Verdacht der Spielmanipulation zerstört mehr als nur die Reputation einer anachronistischen Zunft

„Ich hasse Schiedsrichter, ich könnte sie umbringen“, hat Trainer-Rentner Udo Lattek zusammengefasst

Nicht immer handelt der Mensch so, wie er handeln könnte; nicht immer gründet sein Tun auf jener Moralität, die ihn von anderen Lebewesen abhebt. So weiß oder ahnt jeder Vernunftbegabte, dass nicht jedes des anderen Wolf sein darf, dass Auge um Auge, Zahn um Zahn auf Dauer keine sinnvolle Anweisung im sozialen Verhalten darstellt … dennoch fällt es schwer, diese Maximen im täglichen Daseinskampf zu beherzigen. Der spielende Mensch zum Beispiel: Nur da, wo der Mensch spielt, ist er, wie Friedrich Schiller in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ betont, wahrhaft bei sich und bringt die auseinander strebenden Kräfte von Vernunft und Sinnlichkeit zusammen. Der homo ludens (Johan Huizinga) begründet die Kultur und lässt sich von der Unfreiheit der Arbeitswelt nicht bestimmen.

Wer spielt, heißt es, vergisst die Zwänge des Lebens – so die edle Theorie, doch wie immer beginnen die Probleme, wenn der moralisch sich nicht auf seiner potenziellen Höhe bewegende Mensch sich in der Praxis bewähren will oder muss. Versuchungen umzingeln den Spieler, locken ihn in die Falle der Abhängigkeit. Viele Spiele führen zu Hotels in der Schlossallee, zu Toren, Körben, Wett- oder Satzgewinnen, und das Schielen auf den denkbaren Sieg überlappt die pure Spielfreude, vor allem wenn Triumphe mit schnödem Mammon oder gesellschaftlichem Ruhm honoriert werden.

Einer nur, so wollte es bis vor kurzem scheinen, stellt sich dem Verlust des reinen Spielvergnügens unbeirrt entgegen: der Schiedsrichter. Er allein macht sich auf, der Gerechtigkeit – nach Aristoteles („Nikomachische Ethik“) die höchste aller Tugenden – Gehör zu schaffen, sie den erfolgsversessenen Spielern in Erinnerung zu rufen bzw. zu pfeifen. Der Unparteiische schießt keine Tore; er waltet seines Amtes unabhängig davon, wie Akteure und Zuschauer sein Wirken kommentieren. Der Schiedsrichter ist die Hassfigur der modernen Gesellschaft, mal der Lächerlichkeit preisgegeben, mal dem Zorn ausgeliefert. Gewiss, sein Renommee war stets überschaubar: Wer denn, so die Spötter, ist bereit, sich allwöchentlich dem Geifer schnaubender Spieler auszusetzen und von TV-Kameras auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden? Wer schon will übelste Beschimpfungen geduldig ertragen, von denen die „Bratwurst“, mit der Fredi Bobic einst Schiedsrichter Kasper bedachte, eine der harmlosesten ist?

Der Schiedsrichter ist der letzte Mohikaner gelebter Ethik. Manager, Trainer und Spieler, die sich allesamt und immer von ihm betrogen fühlen, stempeln ihn zum Versager, zum Bösen schlechthin. Er ist der „Spielverderber“, der die Freude am scheinbar unschuldig ausgeübten Spiel raubt, weil er ahndet, was er sieht. An „Fingerspitzengefühl“, einer im Regelwerk nicht vorgesehenen Eigenschaft, habe es dem Mann in Schwarz (oder Grün, Gelb, Rot) gemangelt, monieren jene Furien auf Vereinsbank oder Tribüne, denen zum Sieg normalerweise jedes Mittel recht ist. „Ich hasse Schiedsrichter, ich könnte sie manchmal sogar umbringen“, hat Trainer-Rentner Udo Lattek dies kurz und bündig zusammengefasst, und andere notorische Nörgler wie Jürgen Klopp oder Matthias Sammer tun es ihm nach und erweisen sich immer wieder als (meist nicht regelkundige) „schlechte Verlierer“.

Der Unparteiische fällt aus dem Rahmen, und wer sich damit eingehend beschäftigt, stößt bald auf erstaunliche Parallelen. Der Ballhistoriker Christoph Bausenwein hat in seinem tief schürfenden Werk „Geheimnis Fußball“ darauf hingewiesen, dass die Zahl „11“ in Mythologie und Kultur häufig mit Verfehlung und Sünde zusammengebracht wurde. Seine Folgerung: „Eine Fußballelf ist offensichtlich nichts anderes als die zur Mannschaft gewordene Übertretung; in ihr personifiziert sich sozusagen die im Fasching praktizierte ‚Verkehrung‘ der Welt.“ Und ein Strafstoß, ein Elfmeter, wird, so Bausenwein, folglich gegen eine Mannschaft verhängt, weil sie „die Fußballgesetze übertreten“ hat.

Der Schiedsrichter und seine Assistenten passen nicht in dieses Gefüge des Gesetzesverstoßes. Sie gehören nicht zum Kosmos der sündhaften Elf, sie tragen Sorge dafür, dass dem rechtsfreien Raum vorgebeugt wird. Der Schiedsrichter ist im zum Kommerz gewordenen Spiel ein Relikt aus alten Tagen. Und daher rührt seine Faszination: Selbst wenn seine Leistungen in den höheren Spielklassen inzwischen angemessen vergütet werden, bleibt er ein Außenseiter, dessen anachronistisches Wirken daran erinnert, dass das Spiel seinen ursprünglichen Charakter längst verloren hat. Das „interesselose Wohlgefallen“ (Immanuel Kant) gilt in der Arena Auf Schalke und im Paderborner Hermann-Löns-Stadion nur bedingt, und der unerschrockene zwölfte Mann mahnt uns an dieses verlorene Paradies. Die Manipulationsvorwürfe gegen den Berliner Robert Hoyzer zerstören diese Vision. Es ist schrecklich.

RAINER MORITZ

Der Autor amtierte von 1975 bis 1983 als Schiedsrichter auf süddeutschen Sportplätzen, leitet heute das Hamburger Literaturhaus und ist Autor einschlägiger Publikationen, darunter: „Vorne fallen die Tore. Fußball- Geschichte(n) von Sokrates bis Rudi Völler“ (Kunstmann Verlag, 2004).