Es bellen die Hunde, es wächst der Wald

Ein Vernichtungslager in Litauen: Ein Tagebuch, in Limonadenflaschen vergraben, war lange das einzige Zeugnis des Mordens. Die israelischen Regisseure Yaron Kaftori und Limor Pinhasov Ben Yosef zeichnen in ihrem Film „Stimmen aus dem Wald“ ein prekäres Bild der Erinnerung

Das Rattern der Maschinengewehre und den Gestank der verbrannten Leichen aus dem nahe gelegenen Wald haben die älteren Bewohner von Ponar nicht vergessen. Während der deutschen Besatzung Litauens wurden in dem kleinen Ort westlich von Wilna 100.000 Menschen ermordet, darunter 70.000 Juden. Doch was bleibt nach sechzig Jahren davon in Erinnerung?

Dieser Frage versuchen die israelischen Regisseure Yaron Kaftori und Limor Pinhasov Ben Yosef in ihrer Dokumentation „Stimmen aus dem Wald“ nachzugehen. Als erzählerisches Gerüst dient ihnen das nach dem Krieg aufgefundene Tagebuch des Kazimierz Sakowicz, eines polnischen Bewohners von Ponar. Er hat akribisch aufgezeichnet, was sich seit Juli 1941 im Ort und hinter seinem Haus im Wald ereignete. Nüchtern und emotionslos protokolliert er das über Stunden andauernde Geräusch der Erschießungen und das Wetter des jeweiligen Tages. Wie er das ausgehalten hat, was für ein Mensch Sakowicz darüber hinaus war, lässt sich nicht mehr in Erfahrung bringen. Bevor er selbst im Juli 1944 ermordet wurde, hat er seine zum Teil auf Kalenderblättern notierten Aufzeichnungen in Limonadenflaschen verpackt und vergraben.

Doch dafür nimmt Sakowicz’ Tagebuch etwas anderes in den Blick: den Vernichtungsort Ponar als bewohnte Ortschaft, deren Einwohner zu unfreiwilligen Zeugen, aber auch Profiteuren des Massenmordes in ihrer Nachbarschaft wurden. So sind die beiden Regisseure in das heutige Ponar gereist und haben Überlebende der Erschießungen, aber auch damalige und heutige Bewohner vor die Kamera geholt. Zeitzeugenberichte und Tagebuchnotizen setzen sich zu einem prekären und zum Teil auch widersprüchlichen Bild der Erinnerung an ein Verbrechen zusammen.

Ponar heute zeigt sich als ein Ensemble aus tristen Holzhäusern, Hundegebell und gardinenverhängten Fenstern. Über den ehemaligen Tatort selbst ist neuer Mischwald gewachsen. Es ist ein wolkenverhangener Herbst, immerzu fällt Regen. Auf explizitere Bewertungen verzichtet der Film.

Die Überlebenden kommen aus Israel, Deutschland und den USA. Der damals 17-jährige William Good erzählt, dass er bei seiner Exekution „irgendwie gestolpert“ und in die Leichengrube gefallen sei, kurz bevor der Schuss, der ihn töten sollte, abgefeuert wurde. Eine andere Überlebende irrt jetzt fassungslos durch den Wald: „Ich kann die Gruben nicht finden. Ich stand hier und sah meinen Bruder an. Ist hier nichts?“ Ein Dritter, der sich dem Widerstand anschloss, fragt sich, warum die Partisanen, darunter 700 Juden, nichts gegen das Morden unternommen hätten.

Zu den besonders beklemmenden Eindrücken dieses Films gehören die Erinnerungen der Anwohner. Die bald Achtzigjährigen äußern sich erstaunlich abgeklärt. Und das, obwohl in der Kriegsgedenkkultur der Sowjetunion der Judenmord und die Beteiligung litauischer Hilfspolizisten tabuisiert wurden. Umso mehr scheint es die Alten nun zu drängen, ihre Eindrücke von damals preiszugeben. Doch in die Erinnerung mischen sich nationale Animositäten zwischen Nachbarn und familiäre Rücksichtnahmen. Eine Frau behauptet, dass nicht litauische Faschisten, sondern tschechische Soldaten die Exekutionen durchgeführt hätten.

Kontrovers bleibt auch die Existenz des streunenden Dorfhundes Mischka, der Sakowicz’ Tagebuch zufolge Leichenteile aus den Gruben gefressen hat. Ohnehin dokumentiert der Film eine ungeklärte Übergangszone von der passiven Zeugenschaft zur aktiven Leichenfledderei. „Für die Litauer sind 300 Juden 300 Paar Schuhe, Anzüge und Kostüme“, hält Sakowicz in seinem Tagebuch fest. Die Zeugen von damals räumen unumwunden ein, dass mit den Kleidern der Toten und herausgebrochenen Zahnkronen ein schwunghafter Handel in Gang gekommen sei. Doch keiner will selbst daran beteiligt gewesen sein.

Bei aller Beredsamkeit fällt es den Zeitzeugen schwer, sich selbst zu den Ereignissen in Beziehung zu setzen. Hölzerne Emotionslosigkeit kontrastiert zuweilen unerträglich mit redundanten Erklärungsversuchen. So, als müssten die Zeugen noch am Ende ihr gelebtes Leben gegen uneingestandene Schuldgefühle und die Fragen der Filmemacher verteidigen.

Die ehemalige Küchengehilfin Regina Javlonska hat die Todesschützen von Ponar mit Essen versorgt. Ob das schon Beihilfe sei, möchte sie wissen, und betont zugleich, „dass wir auch viel Spaß in der Küche hatten“. Möchte man sich über die Verweigerung von Einfühlung und Mitleid nun ekeln oder den Zeitzeugen ein eigenes Trauma zugestehen? In jeden Fall weisen die zuweilen ungehobelten Erinnerungen ebenso darauf hin, dass eine breitere gesellschaftliche Diskussion der deutschen Besatzungszeit in Litauen noch aussteht. JAN-HENDRIK WULF

„Stimmen aus dem Wald“, ab heute im fsk 2 am Oranienplatz, 20.30 Uhr