LESERINNENBRIEFE
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■ betr.: „100 Stunden wühlen in der Kindheit“,sonntaz vom 16. 5. 09

Es braucht Zeit

Die Psychoanalyse behandelt aktuelle, weitgehend unbewusste Konflikte, welche die ganze Persönlichkeitsstruktur umfassen. Bei einer Depression, hier zitiert, steht die Angst vor dem Verlust einer emotional wichtigen Beziehung im Zentrum, einst eine reale Person, später ihr verinnerlichtes Bild betreffend. Der in seiner vollen Tragweite unbewusste Konflikt spielt sich dann zwischen den Polen von Abhängigkeitsbedürfnissen und Autonomiewünschen ab; die Wahrnehmung der eigenen Aggression wird dabei abgewehrt. Es braucht Zeit und eine intensive therapeutische Beziehung, damit die Patientin erkennen kann, in welcher Weise sie nicht nur die eigene Person, sondern auch ihr Umfeld aus unbewussten Motiven heraus zu beeinflussen versucht, um das Erleben von Getrenntheit zu vermeiden. Dabei kann deutlich werden, dass diese Haltung bereits in früher Kindheit mit den ersten Beziehungspersonen erworben wurde. Der Gewinn aus einer solchen Arbeit liegt darin, dass sich die Patientin in dem nach ihrem eigenen Rhythmus gestalteten Therapieprozess authentisch erlebt und die so erworbene Fähigkeit der Reflexion über sich selbst auch nach Ende der Behandlung zur Verfügung hat.

Das Risiko besteht darin, dass die Konfrontation mit den eigenen inneren Abgründen so erschreckend und kränkend empfunden werden kann, dass das dort Vorhandene lieber nach außen projiziert werden soll, zum Beispiel auf eine „unfähige Therapeutin“ (die es natürlich auch geben kann). Direktive Psychotherapien wie die Verhaltenstherapie, die oft rasche Erfolge vorweisen können, beinhalten dagegen das Risiko von Symptomverschiebungen, wenn die Patientin das Gefühl der Übereinstimmung mit ihrer Therapeutin nicht gefährden will und das nicht untersucht wird. Charakterhaltungen, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben, können nicht in kurzer Zeit verändert werden, so wünschenswert das den Krankenkassen auch erscheinen mag.

CORNELIA PUK, Psychoanalytikerin, Herrenberg

■ betr.: „100 Stunden wühlen in der Kindheit“

Ein entsprechendes Menschenbild

Ärgerlich, einseitig, unsachlich und unkritisch. Eine anscheinend misslungene analytische Behandlung wird zur Generalaussage über das Verfahren erhoben. Der Beitrag scheint ein Abbild der symptomorientierten Schnellschussbehandlung zu sein, zu der ein entsprechendes Menschenbild gehört, in dem der Mensch in Parzellen eingeteilt wird, die isoliert und ohne Bezug zum Ganzen „repariert“ werden sollen.

Was bitte ist „kognitive und Verhaltenstherapie“? Und auch „tiefenpsychologisch fundierte analytische Therapien“ sind eigene Wortschöpfungen der Autorin und zeugen von der nachlässigen Recherche. Dass das Honorarsystem die wertvolle Arbeit der psychiatrischen Kollegen ad absurdum führt, zeigt letztlich den Stellenwert, den die Gesellschaft seelischen Erkrankungen beimisst. BERND KUCK, Dipl. Psych., Bonn

■ betr.: „100 Stunden wühlen in der Kindheit“

Heftige Auseinandersetzungen

Es gibt heftige Auseinandersetzungen über psychotherapeutische Verfahren, die auch vom jeweiligen Menschenbild geprägt sind. Sie zitieren den „Experten Jürgen Margraf“ und eine Sprecherin der TK wie Quellen wertneutraler Wahrheit.

Schwere psychische Störungen lassen sich nicht in ein paar Stunden beheben. Da braucht es Zeit, um Vertrauen zu fassen, um sich den inneren Verletzungen anzunähern. Hierüber gibt es Studien, die in Ihrem Artikel leider nicht erwähnt werden. Auch die Feststellung, dass Psychoanalyse die Psychotherapie der Mittelschicht sei, kann ich aus meiner Erfahrung nicht bestätigen. Die Zahl psychischer Erkrankungen wächst. Ihre Behandlung ist ein wichtiges Thema in der Gesundheitsversorgung. Es ist schade, dass das Thema im Artikel so platt abgehandelt wurde.

CHRISTA BRÄHLER, Psychoanaltykerin, Gießen

■ betr.: „60 Jahre Grundgesetz“, taz vom 20. 5. 09

Erhebliche Unterschiede

60 Jahre Grundgesetz – eine Erfolgsgeschichte, lese ich in diesen Tagen allenthalben in Ihrer Zeitung. Ist das wirklich so? Nehmen wir z. B. nur einmal den Artikel 3 (2): „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Auch nach 60 Jahren Grundgesetz verdienen Frauen in unserer sogenannten Wohlstands- und Leistungsgesellschaft in der Realität bei gleicher Arbeit immer noch rund 23 % weniger an Lohn als Männer. Selbst unter Männern gibt es nicht unerhebliche Unterschiede. Wenn ich im Osten Deutschlands wohne, verdiene ich bei gleicher Arbeit immer noch bedeutend weniger als im Westen, obwohl sich die Produktivität geographisch gesehen kaum noch unterscheidet. Dagegen hatten die Bundesregierung und die Gewerkschaften nach erfolgter Wiedervereinigung 1990 verbindlich versprochen, die Ost-Löhne innerhalb von zehn Jahren den West-Löhnen anzugleichen. Mittlerweile läuft es in unserer „globalisierten, von Lohn-Dumping geprägten Welt“ in Deutschland darauf hinaus, die West-Löhne den Ost-Löhnen anzupassen. Können und dürfen wir da überhaupt noch von einer Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes sprechen, wenn in der Praxis ganz andere Maßstäbe gelten?ROLAND KLOSE, Bad Fredeburg

■ betr.: „Lafontaines Freaks. Warum profitiert Die Linke nicht vom Allgemeinen Linkstrend? Warum lässt sie sich von ihren Sektierern so billig vorführen?“ von Robert Misik, taz vom 19. 5. 09

Mit dem Herzen denken

Die Linke hat vor allem dann gute Entwicklungschancen, wenn sie den Bezug zu ihrem Gründungsparteitag nicht verliert: „Nie mehr soll’n uns jene lenken, die nicht mit dem Herzen denken.“ (Konstantin Wecker)

SUSANNE BAUMSTARK, Berlin