Und dann schmilzt es im Mund

ZUCKER Ein Sahnehimbeertrüffelchen kann das Paradies auf Erden sein. Die Food-Industrie will diesen Flash simulieren – weshalb immer mehr Speisen immer süßer schmecken

Grenzwertig: Alles, was einst dem salzigen oder herben Geschmack zugeordnet wurde, schmeckt heute süßlich. Wobei die Süße gut getarnt wird und die Dosis lautlos erhöht wird.■ Etikettenschwindel: Vor hundert Jahren lag der jährliche Zuckerkonsum pro Kopf bei etwa 3 Kilo, heute sind es etwa 36 Kilo, wobei der Verbrauch jährlich steigt. Die Food- und Getränkeindustrie weiß, wie man Zucker versteckt; nicht nur beim Wein gibt es den Trick: Make it sweet and name it dry. ■ Ersatzhandlung: Süßstoffe sind Zuckerersatzstoffe und so etwas wie universale, kalorienfreie Aromastoffe. Süßstoffe schmecken extrem süß, der Nachgeschmack ist meist leer und metallisch. Anders als Zucker regen sie den Stoffwechsel nicht an und wirken nicht stimmungsaufhellend – nur dank des Placeboeffekts machen sie mitunter trotzdem glücklich.

VON TILL EHRLICH

Die Macht einer sehr guten Süßspeise hat viel mit Grazilität und dem Spiel mit der Süße und ihrer Verführungskunst zu tun. Ein raffinierter Zuckerbäcker arbeitet mit sagenhaften Fett- und Zuckerkonzentraten und sagt, es gibt aber nur ein Häppchen davon. Ein winziges Sahnehimbeertrüffelchen. Zur Krönung des Essens. Und dann schmilzt es im Mund, und es ist wunderbar.

Wenn man eine wirklich gute Konditorei oder Confiserie betritt, kann man kaum anders, als sich den süßen Köstlichkeiten hinzugeben. Man kann nicht widerstehen und erlebt in diesem Moment die eigene Existenz als Fülle und Elend. In einer süßen Wonne aufzugehen kann so ekstatisch sein, dass man die Schwere und Endlichkeit des Lebens für einen Augenblick vergisst. Die Süße kann aber auch die Substanzlosigkeit einer Speise verbergen, indem sie Fülle vortäuscht, wo nichts ist.

Auf diesem Prinzip ist heute im Grunde die gesamte Foodindustrie aufgebaut, wobei die Süße die „Leere“ von minderwertigen Zutaten und Produkten kaschieren soll. Dabei wird der Zuckerzusatz oft mit Aromen und Farbstoffen verbunden. Durch Zugabe von Säurungsmitteln wird zudem eine vordergründige Süße-Säure-Spannung erzeugt, die das Geschmacksempfinden stark reizt. Das Vortäuschen von Substanz kann dann noch auf das Spiel mit Konsistenzen und Temperaturen erweitert werden.

Der Schmelzeffekt

Eiskreme beruht auf dem Prinzip, dass winzige Eiskristalle mit unzähligen Luftbläschen so verbunden werden, dass der Eindruck einer leichten und lockeren Creme entsteht, die in der Wärme des Mundes einen angenehmen kühlen Schmelzeffekt auslöst. Doch wenn Eiskreme in der Sonne zerläuft, sieht man, dass da kaum etwas übrig bleibt außer einer gefärbten süßen Brühe, die man warm und flüssig kaum mit Genuss trinken könnte. Auf Sinnestäuschung beruhen ebenfalls Smoothies, Fruchtgetränke, die sich von herkömmlichen Fruchtsäften durch ihre Dickflüssigkeit unterscheiden. Doch die Konsistenz täuscht den vermeintlich hohen Fruchtextrakt nur vor. Man glaubt, man trinke etwas Substanzielles, ein gesundes Fruchtpürree. Tatsächlich ist es oft ein billiger Saft mit viel Zucker und hohem Säuregehalt.

Zucker erzeugt ein Gefühl von Fülle in der Wahrnehmung, obwohl es ein „leerer“ Energielieferant ist, der weder Vitamine noch Mineralstoffe enthält. Das süße Schleichgift hebt die Stimmung, da es Stoffwechselprozesse anregt, die Wohlfühlhormone ausschütten. Die Sucht kann entstehen, da ab einem gewissen Hormonspiegel eine Geschmackserwartung ins Spiel kommt. Wird sie nicht erfüllt, muss die tägliche Zuckerdosis erhöht werden, da die Konditionierung den Kick immer weiter hinausschiebt. Die Süße kann nicht erfüllen, nur befriedigen. Die Grenze in einem ist der Ekel. Das Problem ist, dass man diese Grenze immer weiter herausschieben kann, bis zur Diabetes, bis zum Tod.

Kochen und Zuckerbäckerei sind zwei grundverschiedene Metiers, auch wenn es gewisse Überschneidungen gibt. Die Patisserie ist in der gehobenen Hotel- und Restaurantküche meist eine eigene Abteilung. Ambitionierte Patissiers und Patissières verstehen sich weniger als Konditoren oder Zuckerbäcker, denn als süße Köche. Desserts sollen harmonisch in den Ablauf einer Speisenfolge passen sowie kulinarische Glanzpunkte setzen, daher sind sie oft nicht so süß und schwer wie die Eiskrems, Torten, Petits Fours, Kuchen und Krems des üblichen Konditorenrepertoires. Der fundamentale Unterschied zwischen Kochen und Konditorei besteht im Verhältnis zum Zucker. Beim kulinarischen Kochen dient der Zucker dazu, in einer Soße Balancen zwischen Säure, Schärfe oder Bitterem zu schaffen. Die Süße soll harmonisieren oder zuspitzen, aber nie vordergründig in Erscheinung treten.

Das Gegenteil geschieht in einer Konditorei. Zucker ist ihr Herz, und das Kochen von Zuckersirup die Basis dieses klebrigen Metiers. Ob Glasuren, Baisers, Krokant oder kandierte Früchte, die Herstellung basiert auf dem Schmelzen und Verdicken von Zucker. Die meisten Konditoren kosten ihre Produkte nicht, weil sie oft einen Ekel gegenüber Süßem haben, der sich einstellt, wenn man jeden Tag süße Luft einatmet.

Man kann nicht widerstehen und erlebt die eigene Existenz als Fülle und Elend

Blutwurst-Pralinen

Dennoch beeinflussen die süßlichen Konditoreiprodukte immer mehr das Kochen. Selbst Herzhaftes wie Fisch, Fleisch und Gemüse wird in der Eventgastronomie in der Optik von Törtchen und Eiskrem angerichtet. Fingerfood wird dann auf Empfängen als Blutwurst-Praline, Karotten-Stick oder Mini-Quiche im Fünfminutentakt gereicht. Selbst wenn sie salzig schmecken, sehen die winzigen Häppchen zuckrig aus und machen einen ganz kirre.

Im Barock war man entschiedener und verschlang ganze Vögel, Tiere, Pflanzen und Blüten aus Zucker. Es waren Hohlkörper, die aus purem Zucker geblasen, gemeißelt, modelliert, geschnitzt und ornamentartig bemalt wurden. Zucker war kostbar, und die tortenartigen großen Figuren waren als Desserts der Gang, der nach dem oder während des Abräumens (Deservieren) der Tafel verspeist wurde. Man vollzog zwischen Hauptspeisen und süßem Nachtisch einen Orts- und Stimmungswechsel: Das substanzielle Essen gab es im öffentlichen Bankettsaal, das Dessert in der Zurückgezogenheit und intimen Atmosphäre eines Nebenraums. Unter der glänzenden Oberfläche der bemalten Hohlkörper verbarg sich das Substanzlose, die leere Süße. Um einen schillernden Zuckerpfau verspeisen zu können, musste er mit Gewalt aufgebrochen und zerstückelt werden.

Heute kommt die Süße gut getarnt daher. Es gibt kaum noch Speisen, die nicht irgendwie versteckte Kohlenhydrate erhalten. Die Süßspeise wird so zu einer eher unheimlichen Macht.