Hugo Chávez beschleunigt die Landreform

In Venezuela soll eine Kommission die Besitzverhältnisse und die Nutzung großer Ländereien untersuchen.Großbauern fürchten jetzt Enteignungen. Doch selbst für bürgerliche Politiker ist der Großgrundbesitz anachronistisch

PORTO ALEGRE taz ■ Hugo Chávez will mit der Agrarreform ernst machen. Vorgestern setzte der venezolanische Präsident eine Kommission ein, die die Besitzverhältnisse und die Nutzung großer Ländereien im ganzen Land untersuchen soll. Fünf Prozent aller Eigentümer verfügten über vier Fünftel des Agrarlandes, sagte Chávez. Hingegen könnten 75 Prozent der Kleinbauern nur sechs Prozent des Landes bearbeiten. Eine demokratische Revolution, die diese Ungerechtigkeit zulasse, verdiene diesen Namen nicht, rief Chávez vor begeisterten Anhängern in einem Stadion von Caracas.

Bereits am Samstag war im nordwestlichen Bundesstaat Cojedes die Inspektion einer 13.000 Hektar großen Rinderfarm eingeleitet worden, die der britischen Vestey-Gruppe gehört. Dabei hatte Gouverneur Jhonny Yánez versichert, jene Farmer, die auf ihrem Land produzierten und deren Dokumente in Ordnung seien, hätten nichts zu befürchten. Bis Ende März soll in Cojedes festgestellt werden, welche Teile dieser und weiterer 15 Farmen brach liegen und somit enteignet werden könnten. Er strebe „Ordnung statt Anarchie“ und ein „neues, binnenzentriertes Wirtschaftsmodell“ an, sagte Yánez. Bislang importiert Venezuela zwei Drittel seiner Lebensmittel.

Das Szenario der Financial Times allerdings, die bereits die Vertreibung produktiver Farmer „wie in Zimbabwe“ an die Wand malte, scheint überzogen. Für Yánez nämlich sind Teile des seit vier Jahren besetzten Landes der britischen Firma „produktiv“. Hunderte Familien halten derzeit 80 Prozent des Landgutes besetzt. Nach Angaben der Vestey-Manager ist deswegen die Rindfleischproduktion von 1.500 auf 450 Tonnen pro Jahr zurückgegangen. Als Yánez am Samstag mit 200 Uniformierten auftauchte, beschimpften ihn viele Besetzer als „Verräter“.

Durch die Dekrete zur Landreform werde das Recht auf Eigentum verletzt, meint José Luis Betancourt vom Rinderfarmerverband, Teile des Staatsapparats seien ideologisch verblendet. Doch selbst für den oppositionellen Gouverneur Manuel Rosales ist der Großgrundbesitz überholt. Wie andere bürgerliche Politiker unterstützt er zumindest die Überprüfung und Regelung der Eigentumsverhältnisse.

Die Kleinbauernaktivistin Emma Ortega begrüßte die derzeitige Offensive, denn bisher sei die Agarreform nur schleppend vorangekommen. Seit der Verabschiedung eines Landgesetzes Ende 2001, das den Widerstand der rechten Opposition bis hin zum Putschversuch im April 2002 mit angefacht hatte, ließ Chávez je 10 Hektar große Parzellen aus Staatsland an 130.000 Kleinbauernfamilien verteilen.

Privatbesitz wurde bislang nicht enteignet. 100.000 Familien will die Regierung in den kommenden sechs Monaten Land zuweisen, zum Teil aus zuvor enteigneten Ländereien. 500 Farmen sollen zumindest teilweise brach liegen, 40.000 weitere müssten noch inspiziert werden. Allerdings müssten nun auch die Interessen von mächtigen Staatsfunktionären und Militärs ins Visier genommen werden, forderte Emma Ortega.

GERHARD DILGER