berliner szenen Mangelwaren

Ohne Mängel

Die Großstadt im Allgemeinen und Berlin im Besonderen ist ja der Ort für avancierte Kunst- und Lebensformen. Darüber vergisst man allzu leicht, dass gerade Berlin auch Rückzugsraum für Anachronismen aller Art darstellt: Staubsaugerfachgeschäfte, Romanbuchhändlerinnen, Schwarzelederjackenträger mit und ohne Zopf – in der Provinz kann man sie lange suchen, in Berlin begegnet man ihnen und dem Charme des Vergangenen an jeder dritten Straßenecke.

Zum Beispiel in der Schöneberger Ebersstraße, im äußersten Winkel des inneren S-Bahn-Ringes. Zunächst herrscht hier noch ein fröhliches postmodernes Spiel mit Zeichen und Bezeichneten: „Waren ohne Mängel“ bietet ein Second-Hand-Laden, daneben „Mangelware“, schlicht und elegant verspricht dies die geschwungene Neonröhre.

Weiter südlich schicke Möbel aus den frühen Siebzigern, eine Kneipe mit Brettspielen zum Ausleihen, Kinderläden und dann in verblichen Holzbuchstaben über einem Schaufenster: „Wirtschaftswaren und Seifen“. Ein Laden, der auf knapp drei mal fünf Metern alles bietet, was Omas Herz begehrte: Mausefallen, WC-Spray, Kernseifen, Tischdeckenhalter …

Jedes Mal beim Vorüberfahren betrachtete ich gerührt die Auslagen und erinnerte mich der Zeiten, als die Geschäfte noch Mittagspause machten. Nach einiger Zeit aber wurde ich skeptisch. Niemals jemand im Laden, die Tür stets verschlossen, nur die Dekoration wechselte stetig: Osterhasen, Fußbälle zur EM, Nikoläuse, Weihnachtsschmuck. Schließlich verstand ich: eine komplette Ladeninstallation, wie einst bei Joseph Beuys, aber dermaßen nahtlos in den Alltag eingefügt – genial! Berlin, Stadt der Avantgarde.

CARSTEN WÜRMANN