berliner szenen Strukturierte Abende

Fenster zum Hof

Das junge Paar zog im Seitenflügel ein. Die beiden legten keinen Wert auf Vorhänge, und so wurde ich Teil ihres eindrucksvoll strukturierten Feierabends. Am frühen Abend kehrten sie gemeinsam heim, setzten sich an den großzügigen Tisch in ihrer Wohnküche und aßen. Nach dem Abwasch holten sie ihre Notebooks heraus, schenkten noch etwas Rotwein nach und widmeten sich für ein oder zwei Stunden ihren E-Mails. An manchen Abenden erledigten sie – ihrem konzentrierten Gesichtsausdruck nach – wohl auch einen Teil der Arbeit, den sie tagsüber im Büro nicht geschafft hatten.

Anschließend zogen sie sich mit einem der beiden Computer ins Schlafzimmer zurück, das ebenfalls gut einzusehen war. Sie schauten einen Film. Zuletzt, wenn ihre DVD zu Ende war, hatten sie noch Sex, und weil sie dabei gerne eine Nachttischlampe brennen ließen, wurden ihre professionell wirkenden Stellungen bestens ausgeleuchtet. Spätestens um Mitternacht löschten sie das Licht.

In einem bemerkenswerten Kontrast zu diesem Pärchen stand der nicht mehr ganz so junge Mann, der im Stockwerk über ihnen lebte. Er stand erst am späten Nachmittag auf, entfernte eine aus alten Wolldecken improvisierte Verdunklung von seinem Schlafzimmerfenster und hörte zum Aufwachen zwei Stunden lang laut Musik aus den Siebzigerjahren. Nachts lief er manchmal nur mit einem Bettlaken bekleidet durch die Wohnung, schwang einen abgesägten Besenstiel wie ein Schwert und deklamierte Verse. Auch er hatte keine Vorhänge. Sonderbar war nur, dass er und das junge Paar vor einem halben Jahr genau am gleichen Wochenende auszogen. Seitdem ist die Arbeit am Schreibtisch nicht mehr die gleiche. KOLJA MENSING