Die Krise ist angekommen

PROTEST Hunderttausend demonstrieren allein in Berlin gegen Sozial- und Stellenabbau. Europaweit sind es dreimal so viele. Die Gewerkschaften erleben eine Renaissance

BERLIN ap/taz | Den Gewerkschaften ist die Mobilisierung gelungen: Über 330.000 Menschen sind dem Aufruf des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) gefolgt und haben am Donnerstag und am Samstag in vier europäischen Städten ihrer Wut über die Verursacher der Krise Luft gemacht. In Brüssel und Madrid gingen 200.000 Menschen auf die Straße, Prag zählte 30.000 TeilnehmerInnen. In Berlin waren es rund 100.000.

Eine Stärkung der Gewerkschaften sieht die ehemalige Vizechefin des DGB, Ursula Engelen-Kefer, in den Demonstrationen. Im taz-Interview plädierte sie bei den anstehenden Tarifkonflikten für hohe Abschlüsse als einen Ausweg aus der Krise. Die Arbeitnehmer dürften nicht zu „Opferlämmern“ gemacht werden, nach dem Motto: „Sie haben den Gürtel enger zu schnallen, während die Investmentbanker sich weiter bedienen können.“ Auch Streiks schloss Engelen-Kefer nicht aus.

Michael Sommer, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), warf der Politik auf der Demonstrationskundgebung in Berlin vor, im Kampf gegen die Krise bisher auf ganzer Linie versagt zu haben. Er wetterte nicht nur gegen Hedgefonds und Kreditspekulanten, sondern auch gegen Politiker, die „alle Schleusen für Voodoo-Geldgeschäfte geöffnet und dabei jeden Schutzdamm gegen die grenzenlose Gier eingerissen haben“. Es müsse außerdem dafür gesorgt werden, dass sich eine solche Krise niemals wiederholen könne. Wenn nicht energisch gegen Krise und Krisenverursacher gehandelt werde, „dann wird das Folgen haben für Demokratie und sozialen Frieden“, warnte der DGB-Chef. Dazu gehöre auch, dass die Opfer der Krise nicht noch die Kosten tragen dürften. In Sprechchören riefen die Demonstranten: „Die Verursacher müssen zahlen.“

IG-Metall-Chef Berthold Huber warnte, dass viele Betriebe vor dem Aus stünden, wenn die Politik nicht eingreife. Hunderttausende von Existenzen seien gefährdet, wenn die Politik ihnen nicht mit Krediten, Bürgschaften und öffentlichem Beteiligungskapital unter die Arme greifen. Sein Appell: Die Regierungen dürften die Industrie und ihre Arbeitsplätze „nicht absaufen“ lassen. Huber forderte, dass den Arbeitnehmern auf der Unternehmensebene die gleichen Rechte gegeben werden wie der Kapitalseite.

Ebenfalls auf der Abschlusskundgebung sagte Ver.di-Chef Frank Bsirske, die Situation sei so dramatisch wie seit den Dreißigerjahren nicht mehr. Es handele sich um eine „Krise des Kapitalismus von wahrhaft historischem Ausmaß“. Bsirske beklagte eine „ungeheure Umverteilung von unten nach oben“.

DGB-Chef Sommer forderte die Bundesregierung auf, die Binnennachfrage anzukurbeln sowie ein drittes Konjunkturprogramm für mehr Jobs und Ausbildungsplätze aufzulegen, „das seinen Namen auch verdient“. Dieses müsse jetzt geschehen und nicht erst nach der Bundestagswahl. FLEE

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