Nach dem Schock: die Furcht

AUS BANDA ACEH JUTTA LIETSCH

Zainal Abidins Haus ist von der Flutwelle verschont geblieben. Aber seit jenem Sonntagmorgen, als das Grauen nach Aceh kam, will er nur noch weg: „Wenn das Wasser wieder kommt, sind wir ganz verloren“, sagt der 46-Jährige, der früher in der Zementfabrik von Lhok Nga einige Kilometer außerhalb der zerstörten Provinzhauptstadt Banda Aceh arbeitete.

Die ungewöhnlich häufigen Nachbeben in der letzten Woche nähren bei den Bewohnern der Stadt an der Nordspitze der indonesischen Insel Sumatra die Furcht, eine zweite Katastrophe könnte sie heimsuchen – eine Woche nachdem Tsunamis, riesige Wellen, mit unglaublicher Wucht auf die Küste schlugen.

Wie der Tod riecht

„Hier liegen sieben Tote“, steht an einem Haus, das aus der Trümmerlandschaft eines Vorortes von Banda Aceh aufragt. Drumherum, so weit das Auge reicht, Bilder aus der Hölle: umgerissene Bäume, zerquetschte Autos, Holzbalken, Hausrat, mit Schlamm überzogenes Kinderspielzeug, Sumpfboden. Hier lag einmal das Fußballfeld, auf dem die Kinder auch an dem Sonntagmorgen, als die Welle kam, spielten. In vielen Häusern und Vorgärten schwappt noch immer morastige Brühe.

Auf den von Bulldozern freigeräumten Wegen suchen Verwandte und Freunde nach Spuren ihrer Familien. Viele weinen still. Sie halten Tücher über die Nase, um den furchtbar süßlichen Geruch verwesenden Fleisches ertragen zu können.

Helfer haben inzwischen die meisten Toten geborgen und in Moscheen, Regierungsgebäuden und Privathäusern niedergelegt. Vor der Al-Huda-Moschee fährt ein Militärlastwagen vor. Herunter springt eine Gruppe junger Leute: Freiwillige, die Banda Acehs Tote einsammeln. 149 aufgequollene Leichen packen sie im Gebetsraum in Plastiksäcke. Eine Identifizierung ist unmöglich. Sie schaffen die schwarze Fracht in eines der Massengräber, die nahe der Straße zum Flughafen gegraben wurden.

Eine einfache Maske und Gummihandschuhe sind der einzige Schutz, den diese jungen Leute, meist Studenten, bei ihrer schrecklichen Arbeit zur Verfügung haben. Obwohl bereits Tausende in Massengräbern verscharrt worden sind, liegen vielerorts immer noch Leichen. Hinter dem Militärhospital, in glühender Sonne, warten rund 25 Säcke mit menschlichen Überresten darauf, dass jemand sie abholt. Wie viele Menschen ums Leben gekommen sind, ist immer noch nicht klar – waren es achtzig- oder hunderttausend oder noch viel mehr?

Seit Samstag sind amerikanische und australische Armeemediziner vor Ort, sie haben einen Teil des Militärhospitals von Banda Aceh übernommen, in einem anderen Krankenhaus arbeiten Ärzte und Schwestern aus Jakarta und Medan. Das ursprüngliche Personal ist verschwunden: „Ich weiß nicht, wie viele von denen überhaupt noch leben“, sagt ein Chirurg aus Jakarta.

Hercules-Frachtmaschinen bringen endlich Medikamente und Lebensmittel ins Land. Seit dem Wochenende liegt der US-Flugzeugträger „Abraham Lincoln“ vor der Küste. Von dort aus starten nun Hubschrauber in die abgeschnittenen Regionen im Westen von Aceh, bringen Hilfsgüter und transportieren Verletzte in die Krankenstationen.

Eine überforderte Provinz

Tagelang schon haben indonesische und internationale Organisationen bereitgestanden, um Medikamente, Lebensmittel und Hilfspersonal zu schicken. Doch die Hilfe erreicht Banda Aceh viel zu spät. Ein Grund: Der Flughafen von Banda Aceh ist völlig überfordert. Die Hälfte der Fluglotsen und des technischen Personals sind seit dem 26. Dezember nicht mehr zur Arbeit erschienen, weil sie nach ihren Verwandten suchen, sagt ein Mitarbeiter. Der Tower ist beim Erdbeben beschädigt worden.

Deshalb sitzen die Fluglotsen an einem Schreibtisch unter einem kleinen Zeltdach und kommandieren jede startende und jede landende Maschine mit dem Funkgerät in der Hand, und verlassen sich auf Augenschein und Erfahrung. „Mehr als vier große Flieger können wir nicht gleichzeitig verkraften“, erklärt ein Fluglotse mit dunklen Ringen unter den Augen.

Kein Wunder, dass in- und ausländische Helfer inzwischen tief frustriert sind, weil angekündigte Hilfsflugzeuge mit Medikamenten und Nahrungsmittel abgewiesen wurden oder lang auf eine Landegenehmigung für Banda Aceh warten mussten. Während Indonesiens Vizepräsident Jusuf Kalla bei seinem Kurzbesuch am Freitag erklärt, alles Nötige werde getan, um Hilfsgüter ins Land zu holen, landet am Sonnabend stundenlang kein Cargo-Flieger, weil zu viele Passagierflüge eingeschoben sind. In Medan, der nächst gelegenen großen Stadt auf Sumatra, war bis zum Wochenende ein Teil des Flughafens für die Maschinen reserviert, die Pilger zum Hadsch nach Mekka transportieren.

Die mangelnde Koordination ist wohl wenig verwunderlich: Gerade in Aceh, das seit Anfang der Neunzigerjahre – mit einer vierjährigen Ausnahme nach dem Sturz von Indonesiens Präsident Suharto 1999 – unter Militärrecht steht, sind Politiker und Militärs es nicht gewöhnt, Rechenschaft über ihre Aktivitäten zu geben. Korruption und Vetternwirtschaft blühen.

Der fast dreißig Jahren währende bittere Konflikt zwischen der Aceh-Unabhängigkeitsbewegung (GAM) und der Armee prägt die Region, eine der landschaftlich schönsten Asiens. In den Dörfern herrschte schon vor der Dezemberkatastrophe der Schrecken: Tausende Bewohner von Aceh sind in den letzten Jahren in Guerillaattacken der Rebellen und bei den brutalen Vergeltungsmaßnahmen der indonesischen Truppen ums Leben gekommen. Niemand weiß, wie viele Menschen in den Folterlagern der Armee umgekommen sind. Viele sind vor den Kämpfen geflüchtet. Ausländische Journalisten durften in den letzten Jahren nicht mehr nach Aceh reisen, auch westliche Diplomaten und internationale Hilfsorganisationen waren nicht erwünscht.

Jetzt strömen die Ausländer ungehindert in die vor der Katastrophe gesperrte Provinz. „Die Tsunami hat uns Allah geschickt, um uns zum Frieden zu zwingen“, meint ein Vizedorfchef zornig. „Das Erdbeben und die Flut, das war doch nicht der Anfang von unserem Unglück. Der Krieg dauert schon zu lange, wir haben schon vorher zu viele Leute verloren!“ Die Folgen des unbewältigten Konflikts sind doppelt grausam: Viele Dörfler würden am liebsten hinauf in die Parmin-Berge ziehen. Doch wer dort hinaufgeht, riskiert, von der einen oder anderen Seite erschossen zu werden.

Die GAM-Führung im schwedischen Exil hat zwar inzwischen einen Waffenstillstand verkündet. Doch der Konflikt schwelt weiter, auf den Straßen im Land ist es – vor allem nachts – immer noch unsicher. Selbst die Polizisten regeln den Verkehr nur mit dem Gewehr in der Hand.

Helfer helfen sich selbst

Es gibt noch einen anderen Grund, warum die Hilfe so spät und so langsam ins Land kommt: Die lokale Bürokratie ist überfordert. Im Lagezentrum, wo Militärs und Provinzpolitiker über die Entwicklung beraten, ist niemand in der Lage, einen Überblick über die in- und ausländischen Hilfsorganisationen zu geben, die bereits in Aceh aktiv sind oder auf dem Sprung dorthin sind. Eine Gruppe taiwanesischer Mediziner, die ihre Hilfe anbieten will, findet – wie andere ausländische Helfer – niemanden, der sich für zuständig erklärt. Sie tun sich schließlich mit anderen internationalen Organisationen zusammen und helfen auf eigene Faust.

Täglich kommt eine bunte Mischung von Helfern an. Nach den Militärs aus Malaysia und Singapur, koreanischen Technikern, Unicef-Mitarbeitern, christlichen Samaritern sind auch Mitglieder der ultrakonservativen „Front zur Verteidigung des Islam“ zur Stelle, die sich darüber sorgen, dass „ausländische Soldatinnen, die in Hilfstrupps nach Aceh kommen, bei ihrem Einsatz unbedingt ein Kopftuch tragen“ müssten.

Hoffnung auf Überleben

Mit dem Eintreffen von Helfern kehren auch viele Einwohner der Provinzhauptstadt, die sich vor der Tsunami ins Inland geflüchtet haben, zurück, um nach ihren Verwandten zu suchen. Vor dem Büro des „People’s Crisis Center“ drängen sich schweigende Männer und Frauen um die Listen der Vermissten. Die kleine Gruppe von Freiwilligen, die sich vor der Tsunami-Katastrophe vor allem um die Opfer des bitteren Konflikts zwischen dem Militär und der Aceh-Unabhängigkeitsbewegung kümmerte, hilft nun den von der Katastrophe getrennten Familien, in den Flüchtlingslagern nach ihren Verwandten und Freunden zu fahnden.

„Ich habe schon in zehn Lagern gesucht“, sagt ein Mann. „Ich kann meine Frau nicht finden.“ Ein anderer zieht Fotos seines zweijährigen Kindes aus der Tasche. „Ich weiß nicht, wo es ist.“ Auf den Anschlagtafeln mit den Namen sucht er vergeblich nach seinem Sohn. Die jugendlichen Helfer, Studenten aus Aceh und anderen Regionen, die seit Tagen die Namen der Verschwundenen in große Kladden eintragen, können nicht viel tun: Sie hatten bislang keinen Strom und keinen Computer. Auch die Regierung hat bislang offenbar noch nicht begonnen, die Vermisstenmeldungen zu koordinieren.

„Das ist das schlimmste“, sagt der 30-jährige Darmisi, der in der vergangenen Woche von der Universität in Malaysia nach Aceh zurückgekehrt ist: „Nicht zu wissen, ob die Verwandten noch leben oder ob sie tot sind.“ Tausende wandern in diesen Tagen durch die Straßen, immer auf der Suche – und im Herzen die schreckliche Furcht, dass das eigene Kind, die eigene Frau oder der eigene Vater dort unter dem Leichenberg liegt. Darmisi sucht weiter und klagt: „Solange man nichts von ihnen weiß, kann man doch keine Pläne für die Zukunft machen.“