Wilde Hetzjagden um die Kanzler-Karte

Im vorausschauenden Jahresrückblick wirft die taz einen Blick auf die Ereignisse, die kommen werden: Die drohende Fusion von Werder Bremen und Schalke 04, mysteriöse Gelder aus der Rathauskasse, rätselhafte Videobotschaften und die Eröffnung von Lunarium, Hoppedarium und Canarium

22. Januar Beim ersten Rückrunden-Spiel in der Fußball-Bundesliga trifft Werder Bremen auf Schalke 04. Fabian Ernst, der zum Saison-Ende Ailton und Krstajic nachfolgt und ebenfalls nach Gelsenkirchen wechselt, kommt aus Versehen im königsblauen Trikot auf den Rasen. Ailton bringt das so durcheinander, dass er drei Eigentore schießt. Werder gewinnt 4:0. „Musse machen Tor“, rechtfertigt sich der dreifache Torschütze.

25. Januar Parlamentspräsident Christian Weber (SPD) macht nach sechsjähriger Amtszeit seine Drohungen wahr: Die Bürgerschaftsabgeordneten sollen endlich aus ihrem Tiefschlaf erwachen. Dazu wird – ohne dass irgendjemand den Verlust bemerken würde – aus dem Kino im Space Park eine Leinwand und eine dicke Soundanlage für Rundumbeschallung hergeschafft. Das kleine Nickerchen zwischendurch ist nicht mehr möglich. Grüne und CDU nutzen die moderne Technik in der ersten Landtagssitzung im neuen Jahr für einen gemeinsamen Dringlichkeitsantrag zum Thema Kanzlerbrief. Während CDU-Fraktionschef Jörg Kastendiek Bürgermeister Henning Scherf (SPD) auffordert, endlich einen Termin mit Bundeskanzler Gerhard Schröder zu machen, um dessen versprochene finanzielle Unterstützung einzufordern, läuft im Hintergrund ein vom Parlamentssprecher selbst gedrehtes Video „So schön ist Berlin.“ Scherf verlässt demonstrativ den Saal.

2. Februar Klose, Valdez und Borowski geben ihren Wechsel zu Schalke zum nächstmöglichen Zeitpunkt bekannt. Kurz darauf unterschreiben auch Sportdirektor Klaus Allofs und Trainer Thomas Schaaf bei Schalke. Den erbosten Werder-Fans bietet Schaaf an, bei Schalke grün-blaue Trikots einzuführen. Ferner soll die anvisierte Schalker Meisterschaftsfeier auch in Bremen über die Bühne gehen. Erste Gerüchte kursieren, nach denen Werder und Schalke eine Fusion anstreben.

3. Februar Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) schlägt im Interview mit der taz nord vor, Bremen könne die Entwicklungen bei Werder als Modellversuch für einen Anschluss des Bundeslandes an Nordrhein-Westfalen betrachten. Der Berliner taz-Geschäftsführer Kalle Ruch erteilt daraufhin den Lokalredaktionen in Hamburg, Bremen und Köln vorsorglich den Auftrag, ein Konzept für eine taz-nordwest zu entwerfen.

14. Februar Am Valentinstag präsentiert Scherf auf dem Rathaus-Balkon die Kanzler-Karte: „Lieber, Henning, ich hab Dich ganz doll lieb, hier sind schon mal 500.000 Kröten, Rest kommt, wenn Hans im Urlaub ist“, steht darauf. Scherf erklärt, dies sei die erste Tranche des Kanzlerbriefs, Schröder habe ihm zugesichert, insgesamt 500 Mille rüberwachsen zu lassen.

15. Februar Aus der Senatssitzung dringen laute Schreie. Es klingt, als würden Stühle fliegen, eine Frauenstimme kreischt „Meins, alles meins“. Dann stürzt plötzlich der parteilose Finanzsenator Ulrich Nußbaum mit flatterndem Haar und einem triumphierenden Grinsen aus dem Rathaus, seine hoch erhobene Rechte krampft sich um ein Stück Papier. Ihm auf den Fersen sind die restlichen Regierungsmitglieder. Die wilde Jagd endet kurz vor dem Finanzamt, wo Scherf mit einer Blutgrätsche Nußbaum zu Fall bringt und den Scheck wieder kassiert. „Wenn ihr euch nicht einigt, kriegt’s die Grass-Stiftung.“

16. Februar Trotz der verlorenen Jagd um den Scheck erklärt Wirtschaftssenator Peter Gloystein (CDU) auf einer Pressekonferenz, was er mit dem Geld gemacht hätte. „500.000 Euro – das ist eine halbe Million“, betont Gloystein. Das Konzept: eine künstliche Winterlandschaft im Space-Center, Weihnachtsmarkt das ganze Jahr. Die 500.000 seien als Anschubfinanzierung für den Bratfetteinkauf zu verstehen, erläutert Gloystein, der Rest müsste aus dem Kulturhauptstadtfonds bezahlt werden. Um die Gemüter der Kulturhauptstädter zu besänftigen, schlägt er vor, die Auffahrt zur Hochstraße am Bahnhof mit einem Fischgrätmuster analog zur Schlachte zu pflastern.

15. März Scherf fehlt in der Bürgerschaftssitzung. Saaldiener überbringen dafür eine Video-Botschaft des Noch-Regierungschefs. „Hallo Freunde, Berlin ist wirklich nicht so schlecht, hier gibt es viele, die ich noch nie umarmt habe. Ich grüße meine Familie und alle, die mich kennen, auch Carsten.“

1. April CDU-Bausenator Jens Eckhoff erzählt Journalisten in gemütlicher Runde, wie er den von Scherf persönlich gegrüßten SPD-Abgeordneten Carsten Sieling bei einer Wahrsagerin getroffen habe, wo dieser sich nach den Chancen erkundigt habe, dass Scherf nun doch abtritt. Was er selbst hoffte, in den Karten zu sehen, mag Eckhoff nicht erzählen. Für Insider ist klar: Er wollte wissen, ob er doch noch in dem Prozess aussagen muss, der klären soll, in wessen Auftrag das CDU-Haus 2003 verwanzt worden war.

3. April Die BILD-Zeitung macht auf mit einem Interview mit Eckhoffs Wahrsagerin. Überschrift: „Meine Kristallkugel hört mehr als tausend Wanzen!“

16. April Der Verband der Zementindustrie Deutschlands organisiert im Space-Park seine Leistungsschau: „Beton – es kommt drauf an, was man draus macht.“

27. April Beim Malwettbewerb der Handelskammer – Thema: „Mein schönster Space-Park“ – gewinnt „der kleine Carlo“ (Weser-Report) den ersten Preis: eine Betreiberlizenz für die Space-Park-Attraktionen. Beim Siegerfoto stellt sich aber heraus: Der „kleine Carlo“ ist über 40, heißt mit Nachnamen Petri und betreibt in Bremen das Universum Science Center. Sein Vorschlag: Den Millionen-Bau zur Erlebnis-Mondlandschaft Lunarium umzubauen. „Da muss man nicht mehr viel machen“, so Petri. Und: „Je weniger Besucher kommen, umso echter die Atmosphäre.“ Er kriegt den Zuschlag.

1. Mai Die Bahn-Kundenzeitschrift „mobil“ titelt „Bremen, Stadt hinterm Mond“. Die Bremen Marketing GmbH teilt auf Nachfrage mit, dass das Konzept gemäß der Maßgabe Petris gut ankomme.

14. Mai Schalke 04 sichert sich am vorletzten Spieltag in der Fußball-Bundesliga die Meisterschaft.

18. Mai Das Kulturhauptstadt-Projektbüro präsentiert ein Dokument aus dem 14. Jahrhundert, das eine mittelalterliche Städtepartnerschaft zwischen Schalke/Gelsenkirchen und Bremen belegt. Einer gemeinsamen Meisterschaftsfeier steht nichts mehr im Weg. Aus dem Kulturhauptstadt-Fonds winkt ein saftiger Zuschuss für die Sause, der Slogan: „100 Prozent Werder 04“.

21. Mai Petri klagt im taz-Interview, dass die große Koalition trotz des Space-Park-Erfolgs für sein „Visionarum“ noch immer kein Geld bewilligt hat. Bausenator Jens Eckhoff stellt daraufhin eine finanzielle Vorleistung in Höhe von 500.000 Euro (Kanzler-Karte) in Aussicht, unter der Bedingung, dass Petri „botanika“ und Musical-Theater übernimmt und außerdem für die im vergangenen Jahr sinnlos abgeholzte Uniwildnis ein alternatives Nutzungskonzept entwirft, dem auch der Verein der Freunde der Uniwildnis zustimmt. Petri willigt ein, lehnt es aber ab, sich zusätzlich um den brach liegenden Gewerbepark Hansalinie zu kümmern.

25. Mai Werder wird Championsleague-Sieger: nachdem die Uefa beschließt, bei einem Unentschieden nach Verlängerung und Elfmeterschießen ab sofort das Eckballverhältnis in die Spielwertung einzubeziehen, erreicht die Mannschaft durch drei Remis das Finale und besiegt dort Bayern München mit 7:0.

1. Juni Petri eröffnet das „Canarium“, die Erlebniswelt für Hund & Herrchen in der ehemaligen Uniwildnis.

15. Juni Petri eröffnet das „Hoppedarium“ auf der Rennbahn in der Vahr.

17. Juni Die Pläne zum Umbau des Stadionbades werden gekippt. Es wird zum Aquarium. Betreiber: Petri.

21. Juni Letzte Bürgerschaftssitzung vor der Sommerpause. Scherf ist immer noch nicht wieder aufgetaucht, dafür grüßt er wie in den Monaten zuvor per Video-Botschaft. Die Grünen erkundigen sich danach, welches Ressort sich jetzt eigentlich die 500.000 Euro aus der Kanzler-Karte unter den Nagel gerissen habe und ob die Regierung schon einmal etwas davon gehört habe, dass das Parlament das Haushaltsrecht habe. Dabei kommt heraus, dass das Geld tatsächlich bereits ausgegeben wurde, allerdings nicht für Carlo Petris Visionarum, der gerade abgelehnt hat, ganz Bremerhaven zu einer „Auswanderer-Erlebniswelt“ zu machen. Ein Untersuchungsausschuss soll klären, wo das Geld gelandet ist.

15. Oktober Die Kunsthalle eröffnet die Monet-Ausstellung, üppig gefördert mit Geldern aus dem Wirtschaftsressort, nachdem Kultur- und Wirtschaftssentor Gloystein im Senat immer von der „Moneten-Ausstellung“ geredet hat. Als Gegenleistung fordert das Wirtschaftsressort, den Platz zwischen je zwei Gemälden mit Angeboten aus der Gastronomie zu versehen. Kunsthallen-Direktor Wulf Herzogenrath wird von der Handelskammer ruhig gestellt, indem sie ihm den Ankauf eines echten Monets verspricht. Das überregionale Feuilleton ist empört. Radio Bremen 4 aber sendet regelmäßig Ausstellungs-Kritiken à la „Doppelzimmer mit Badewanne, 3 Minuten zur Autobahn, 67 Euro“.

17. November Die taz bremen enthüllt, dass die Summe aus der Kanzler-Karte auf das Konto der Kirchentags-Generalsekretärin Friederike von Kirchbach gegangen ist, damit diese die vorläufige Zusage für einen Kirchentag 2015 in Bremen macht.

19. Dezember taz-Redakteur Klaus Wolschner kehrt mit einem Video von einer Reise zu einem geheimen Ort zurück. Auf dem Band: 120 Minuten Interview mit einem kopftuchtragenden Henning Scherf, der seinen Interviewer fortwährend mit „Axel“ anredet. Das Interview wird auf acht Seiten abgedruckt. Scherf gibt darin zu, dass er nie mit Schröder gesprochen habe und die 500.000 Euro (Kanzler-Karte) aus der Schwarzkasse der Senatskanzlei genommen habe. „Ist es nicht so gewesen, dass dieses Geld direkt von der Günter Grass-Stiftung überwiesen wurde, die damit geschehenes Unrecht wieder gut machen wollte?“, fragt Wolschner. Scherf bejaht und beendet das Gespräch mit einem „Herr Wolschner, wir danken für dieses Gespräch.“

Eiken Bruhn, Klaus Irler,
Armin Simon