Flüchtig in der Sahara

Exodus aus Afrika, Teil 1: In der Wüste Hunderttausende Afrikaner wollen nach Europa – obwohl ihnen der Weg versperrt wird. In einer Reportagereihe beschreiben taz-Korrespondenten heute und in den nächsten zwei Ausgaben die Wege der Einwanderer

AUS TAMANRASSET HAKEEM JIMO

Im Laufe des Tages sollen noch vier Ladungen Menschen kommen. America ist gut informiert. Er ist so etwas wie das Informationszentrum der Migrantenszene in Tamanrasset. America hat diesen Spitznamen von seinen Schicksalsgenossen bekommen, weil er 15 Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt hat. Denn davon können die anderen Mitmigranten nur träumen – hier in Südalgerien, mitten in der Sahara.

Vor fünf Jahren musste America die USA verlassen. Warum genau, sagt er nicht. Aber der 37-jährige ist entschlossen, nach Kalifornien zurückzukehren. Denn seine Frau und ein Kind warten dort auf ihn. Die US-Botschaft in Nigeria verweigert ihm ein neues Einreisevisum. Entschlossen, es irgendwie doch zu schaffen, hat America Berichten Glauben geschenkt, dass man von Europa weitaus einfacher nach Nordamerika komme. Aber auch für ein europäisches Land bekam America kein Visum. So entschied er sich, den Weg nach Europa durch die Wüste zu nehmen, anstelle per Flugzeug zu reisen. America dachte, nichts könne ihn aufhalten.

Rund zweieinhalb Jahre war er in Marokko. Er hat beobachtet, wie das System der Migration funktioniert. Wie die Westafrikaner durch die Wüste an die nordafrikanische Küste kommen und von dort den Absprung über das Mittelmeer wagen. Von Marokko versuchen sie, auf die Kanarischen Inseln zu kommen. Er berichtet: „Ich habe viele in einfachste Boote einsteigen sehen und nie wieder etwas von ihnen gehört. Dieses Risiko wollte ich nicht auf mich nehmen. Andere wurden gleich nach der Ankunft in Spanien nach Nigeria deportiert. Mir blieb nur der Weg zurück durch die Wüste.“

Entlang der Transsahara-Route gibt es so viele Lebensgeschichten und Schicksalsberichte wie Schleichwege durch die Wüste. Geschichten von verängstigten Mädchen, die in Wüstennächten um ein Lagerfeuer sitzen, plötzlich überfallen und mit Benzin bespritzt werden, damit sie mit ihren Brandnarben später keine Freier finden. Von Schleppern in ihren Geländewagen, die sich verfahren haben, weil sie nicht die offiziellen Routen nehmen. Von orientierungslosen Migranten, die eine Stadt vorher herausgelassen werden, mit der Falschinformation, sie seien schon am Ziel. Geschichten von in der Nacht von Schleppern abgeladene Migranten, die denken, die nächste Stadt könne nicht so weit sein, weil der Schein schon zu sehen ist – aber der klare Nachthimmel in der Wüste trägt das Licht Dutzende von Kilometern. Und was in der Nacht nah erscheint, wird am Tag unter sengender Sonne für die Schwächeren zu einer unüberbrückbaren Entfernung zu Fuß.

Jetzt steht America wieder in Tamanrasset an der Straße zwischen dem Markt und dem Lastwagenparkplatz. Neben America lungern noch ein paar Dutzend seiner Schicksalsgenossen. Es sind alles Männer und nahezu alle aus Nigeria. Einer kommt aus Liberia, sein Vater ist Chinese. Auch Ghanaer sollen dann und wann unter ihnen sein. Frauen sind nicht zu sehen.

America meint, es sei mittlerweile für westafrikanische Frauen zu schwierig, sich hier durchzuschlagen. Algerische Polizisten hätten es besonderes auf die Migrantenmädchen abgesehen. Den Durchreisenden aus Westafrika eilt in der heimischen Bevölkerung ein schlechter Ruf voraus. Den Männern wird vorgehalten, sie machten krumme Geschäfte, während die Frauen es auf Prostitution abgesehen hätten. Algerien ist ein islamisch geprägtes Land, und Prostitution gilt als eines der schlimmsten Übel.

Vielleicht ist das der Grund, warum sich die Sicherheitskräfte so für illegale Frauen interessieren. America aber beschuldigt die Polizisten auch anderer Motive. Viele der Frauen seien von den Sicherheitskräften vergewaltigt worden, sagt er. Die Frauen selbst kann man nicht fragen. Wenn sie überhaupt noch den Weg über Tamanrasset wählen, dann verstecken sie sich.

Mit dem neuen Gouverneur von Tamanrasset hat sich die Lage für die Migranten verschlechtert. Es ist ein offenes Geheimnis in der Stadt, dass der Gouverneur versucht, sich mit hartem Vorgehen gegen die Migranten zu profilieren. Regelmäßig finden nun Razzien statt.

America und die anderen schauen ständig die Straße entlang, ob sich ein Polizeiauto nähert. Ab und zu werden sie dann gejagt. Und die, die es nicht schaffen, vor den Polizisten zu fliehen, kommen mit auf die Abschiebungslastwagen. Von dort geht es in ein Zwischenlager und ein paar Tage später dann an eine der Südgrenzen Algeriens.

Bis in den frühen Abend ist kein Lastwagen zu sehen. Aber am nächsten Tag fährt ein Lkw weiter in Richtung nigerische Grenze. Die Ladefläche ist nach oben und zur Seite mit einem Gerüst umgeben. Durch die Zwischenräume passt kein ausgewachsener Körper. Aber keiner der Schüblinge würde auf die Idee kommen, inmitten der Wüste vom Lkw zu springen. Eigentlich ist das Gerüst für den Halt von Transportgut gedacht. Jetzt halten sich etwa 50 Menschen fest, um nicht auf der Ladefläche während der Fahrt hin- und her zufliegen. Auch kann das Gerüst eine Plane tragen. Aber nur Fetzen der Plane schützen einige vor der gleißenden Sonne.

Am algerischen Grenzposten kommt der Lkw zum Stehen. Während der Motor läuft, unterhalten sich die Abschiebepolizisten mit ihren Grenzkollegen. Die Ladefläche mit den Menschen bleibt in der prallen Hitze stehen. Erste ärgerliche Rufe kommen von der Ladefläche. Es ist Englisch mit nigerianischem Akzent. Die Polizisten kümmern sich nicht darum. Hinter dem Tresen hängt die Deklaration der Vereinten Nationen zu den Menschenrechten. Daneben sind fromme rechtstaatliche Mahnungen auf DIN A4-Blättern ausgedruckt: „Der Rechtsstaat beginnt bei der Polizei“.

Zehn Kilometer weiter, kurz vor dem nigerischen Grenzort Assamaka werden die Illegalen heruntergelassen. Der Lkw fährt sofort nach Algerien zurück. Die Flüchtlinge bleiben in der Wüste stehen. Sie können jetzt selber sehen, wie sie weiterkommen – mitten in der Sahara. Nach Süden wären es 200 Kilometer quer durch die Wüste bis zur ersten Stadt im Niger. Zurück nach Tamanrasset wären es 400 Kilometer. Sie sitzen fest.

Tamanrasset ist die südlichste Stadt in Algerien. Hier endet die Teerstraße oder hier beginnt sie. Je nachdem, in welche Richtung man fährt. Es gibt vier Hauptreiserouten von Tamanrasset: Richtung Norden führt eine rund 2.000 Kilometer lange Straße in die Hauptstadt Algier am Mittelmeer. Aber viele Migranten wählen die östliche Route, die nach Libyen führt. Das bedeutet über 700 Kilometer verwirrende Sandpiste, lediglich zwei Oasen für Wasserversorgung, sonst nichts. Für die großartigen Sanddünen haben zwei Dutzend Illegale zusammengepfercht auf einer kleinen Ladefläche eines Toyota-Pick-ups keinen Sinn.

Im Süden von Tamanrasset liegt der Nachbarstaat Niger. Über diese Route kommen nahezu alle Migranten, die aus Westafrika nach Europa aufgebrochen sind. Abschiebungen gen Niger laufen verhältnismäßig selten. Denn der nigerische Staat billigt sie nicht mehr. Dennoch kommen sie weiter vor, die algerischen Behörden setzen die Illegalen einfach in Sichtweite vor dem Grenzposten ab.

Im Südwesten von Tamanrasset kommt nach etwa drei Tagen Autofahrt der malische Grenzposten Tin-Zawatine. Hierhin laufen zur Zeit die meisten Abschiebungen von Migranten aus Algerien.

„Wir waren Nigerianer, Ghanaer und sogar Kameruner auf dem Lastwagen“, sagt America und weiter: „Aber es ist den algerischen Sicherheitskräften egal, woher man kommt. Sie fragen einen zwar. Doch dann wird man dahin abgeschoben, wohin der nächste Lastwagen fährt – meistens ist es Mali.“

Neben Amercia steht Abdul Malik. Er wurde bereits zweimal in Richtung malische Grenze abgeschoben. Auch er kam wieder zurück nach Tamanrasset. Abdul Malik und America berichten, dass es schwieriger und weiter ist, in den ersten größeren malischen Ort von der Grenze zu kommen, als nach Tamanrasset umzukehren. America sagt: „Oft stehen die Schlepperautos schon bereit, um die Leute gleich wieder zurückzubringen. Mir haben die Sicherheitskräfte wie auch anderen sogar geraten, gleich wieder nach Tamanrasset umzudrehen.“

Das Geschäft mit den Illegalen ist für viele ein profitables Unternehmen. Unschwer vorstellbar, dass einige algerische Sicherheitskräfte ihre Finger im Spiel haben. Abdul Malik erzählt, dass er sich im Kommissariat nach der zweiten Festnahme freigekauft habe, um eine erneute Abschiebung zu vermeiden. Dafür sei sein letztes Geld draufgegangen, sagt er.

„Verglichen mit heute, war es noch vor ein paar Jahren viel einfacher, durch die Wüste zu kommen“, sagt America. „Mit 300 US-Dollar kam ich von Nigeria bis an die Grenze zwischen Algerien und Marokko. Jetzt ist alles viel schwieriger.“

America und die anderen stehen fast den ganzen Tag an der Brüstung zum ausgetrockneten Flussbett, der Tamanrasset teilt. Seit anderthalb Jahren lebt America hier. Er sagt, er verkaufe Stoffe, die er aus Nigeria geschickt bekommt. Die anderen verdingen sich als Tagelöhner, wenn es denn mal einen Job gibt. Ab und zu fällt auf dem Fuhrplatz ein kleiner Job ab.

Die meisten der Illegalen wohnen gleich in einem Raum an der Straße. Auf Matten zwängen sich in der Nacht 20 von ihnen in einen Raum. Andere mit mehr Glück oder noch mit etwas Geld haben woanders einen Unterschlupf gefunden. Es gibt zu wenig Arbeit in der knapp hunderttausend Einwohner großen Stadt. Industrie hat sich hierhin nicht verloren. Nur der Tourismus mit Charterflügen aus Europa bringt etwas Leben in die lokale Wirtschaft. Aber die Touristen bleiben in der Altstadt und kommen nicht auf die Seite der Stadt, wo America und die anderen leben.

Abdul Malik hat eine Frage: „Stimmt es, dass europäische Regierungen etwas mit den Abschiebungen von Algerien nach Mali und Niger zu tun haben? Wenn ja, sollten sie es bitte überdenken.“ Vor dem Hintergrund, dass europäisches Geld für Grenzschutz nach Libyen fließt, klänge ein klares Nein unglaubwürdig.

Der 27 Jahre alter Hochschulabsolvent will um jeden Preis nach Europa. Auch vor dem Mittelmeer hat er keine Angst. „Was soll ich hier in Afrika? Fünf Jahre lang habe ich Arbeit in Nigeria gesucht. Jetzt zurückzugehen, nachdem ich das ganze Geld aufgebraucht habe, ist für mich unvorstellbar. Lieber sterbe ich.“