Weniger Hut, mehr Mut

Flockig erzählt, grazil schraffiert und dazu ein Jubiläum: Schillers „Wilhelm Tell“ für Kinder in den Worten von Barbara Kindermann und mit den Bildern von Klaus Ensikat

VON OLIVER RUF

Durch die Schweizer Täler streift ein blasser Lump. Grausam. Fahrig. Bewaffnet. Hoch zu Ross. Bleich um die Nase. Schielend. Kein Funken Milde im Blick. Weder Erbarmen. Noch Mitgefühl. Den schwarzen, breitkrempigen Hut über den kahlen Schädel gestülpt. Weht der Mantel im Wind, blitzt das Schwert am Gürtel, und die Farben werden düster. Das Bild zeigt den Schuft, wie er von Grund auf ist: herrisch, böse, arrogant. Angst greift um sich, weil er auftaucht. Die Szene ist grazil schraffiert; sie zeigt die verschrobene Gestalt und gleichzeitig die schlechte Laune, die sie bewirkt. Klaus Ensikat hat diese Zeichnung angefertigt, der Illustrator, der ein Stimmungsmaler ist, auf großer Fläche komplexe Augenblicke zeigt, vorzugsweise das Vor- und Nachher gleich in einem darstellt, hier den Schrecken, der alsbald übers Land hereinbrechen wird, weil der österreichische Kaiser sein Reich vergrößern und den Schweizer Nachbarn Land und Freiheit rauben will.

Der Habsburger Herrscher schickt deshalb Landvögte aus. Sie plagen das Volk fürchterlich. Allen voran einer mit Hut. Der Schurke Gessler, vergrämt voll Neid. Vorbei ist’s mit dem Frieden in Uri, Schwyz und Unterwalden. Gessler kommt und mit ihm sein Hut. In Altdorf wird jener aufgepfahlt, damit die Menschen sich vor ihm verbeugen und dadurch Gehorsam beweisen. Und wieder dröhnt der Unmut der Leute aus dem Bild heraus, als Gesslers Schergen den Hut auf dem Stock durch die Gassen führen und brüllen: „Ihr seht diesen Hut, Männer von Uri!“ Sonach kann nur einer diese Geschichte erzählen: der dramatische Dichter Friedrich Schiller, dessen Stück vom Hut und dem Vater, der ihn nicht grüßt und deshalb seinem Sohn mit der Armbrust einen Apfel vom Haupt schießen muss, vor 200 Jahren in Weimar uraufgeführt worden ist. Hier lesen und schauen den „Wilhelm Tell“ aber vornehmlich Kinder. Was ebenfalls ein Jubiläum ist.

Vor zehn Jahren gründete Barbara Kindermann ihren gleichnamigen Verlag, der seither Weltliteratur für Kinder verlegt. Zum Beispiel „Nathan der Weise“. Oder „Romeo und Julia“. Und diesmal Schillers „Tell“. Kindermann bereitet meist selbst den Text neu auf. Sie erzählt die Klassiker nach, man könnte sagen: kindgerecht. Weil ihre Sprache genügsam ist: „Wie geheimnisvoll das Rütli in jener Nacht wirkte! Wie verschwörerisch die hohen Felsen die Bergwiese überragten und wie geisterhaft der dunkle Wald den Platz umgab! Aus allen Richtungen näherten sich Lichterzüge dem Treffpunkt. Auf den schattigen Felsen stiegen Fackelzüge die steilen Pfade hinab. Boote mit Feuerlichtern steuerten über den schwarzblauen See auf das Rütli zu und die weißen Gletscher leuchteten im Mondlicht.“ Jedes Jahr versammeln sich bis heute die Schweizer auf jener Rütli-Wiese und gedenken dem „uralten Bündnis“ – „Ob uns der See, ob uns die Berge trennen, wir sind doch ein Volk! … Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, und eher den Tod erdulden, als in Knechtschaft leben.“

Barbara Kindermann, die in der Schweiz geboren wurde und heute in Berlin lebt, hat ihrer Heimat mit dem jetzt erschienenen „Wilhelm Tell“ ein Geschenk zu dessen Jahrestag gemacht. Und dazu ein zweites Mal den großen Zeichner Klaus Ensikat verpflichtet. Der illustrierte schon Goethes „Faust“ vor zwei Jahren für Kindermann. Was bereits damals dem kleinen Verlag eine Menge Aufmerksamkeit und manchen Preis bescherte. Auf Ensikats Bildern tut sich nämlich etwas Tolles, tut sich nämlich ein Spalt auf, zwischen Gegenwart und literarisch-historischer Fiktion. Im „Faust“ sitzt etwa ein Punker in der Gasthausschenke, mit ratzegrünem Irokesenschnitt. Und Mephisto trägt zur violetten Dämonenkappe nicht etwa diabolische Kleidung. Sondern: einen läppischen Trenchcoatfetzen.

Schillers „Tell“ zimmert Ensikat nun zum Stillleben. Die Schweizer Landschaft! Die verknitterten Häuschen! Torbögen; rauchende Schornsteine; Männer in Strumpfhosen! Das bedeutet: Viel Detail, viel Kennerblick, viel Augenzwinkern.

Dazu durchbricht Kindermann die eigene Nacherzählung mit altbekannten „Tell“-Zitaten („Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.“). Den Spalt aus Ensikats Bildern finden wir im Text, wenn ihre Sätze in der Schwebe stehen, der alte Ton des dramatischen Originals noch klingt, verschränkt wird mit einer flockig-leichten, frischen Sprache. So gelingt ein lehrreiches Kabinettstückchen: Klassiker fürs Pausenbrot. Statt schwer bekömmlich im Deutschunterricht. Der Kindermann Verlag tut gut daran. Bei Goethe und bei Schiller. Wie auch im ganzen Verlagsprogramm. Zum Beispiel mit Norman Junge (Illustrationen) und Joachim Rönneper (Verse), die dort 2003 eine kleine Kunstgeschichte veröffentlicht haben, in 16 Stationen eine Galerie der modernen Kunst bebildern bzw. bedichten: „Ich bin der Maler Moll / und male ganz schön toll. / Ich bin zwar nur ein Hase, / male meistens mit der Nase. / Mit der Pfote male ich / Blumen, Möhren und auch dich. / Auch Ohren sind zum Malen da: / Leinwand hie und Landwand da.“ Ein malender Hase lotst durch die bunte Welt von Eat-Art, Action-Painting, Ready Mades und Suprematismus. Grandios. In Schillers „Tell“ führt dagegen ein beherzter Schütze durchs schöne Schweizer Land.

Für Kindermann und Ensikat ist Wilhelm Tell ein wackerer Bursche. Ein Naturmensch. Mit krausem Haar. Und bärtigem Kinn. Der nicht ohne Armbrust das Haus verlässt. Ein stolzer Mann. Der Freunden beisteht. Keinen Hut grüßt. Und freundlich bleibt. „Ich bin der Tell, lieber Herr“, entgegnet er dem Schreckgespenst. „Bitte verzeiht mir, es war nicht Verachtung oder Ungehorsam, ich war nur gedankenlos, es wird nicht wieder vorkommen.“ Doch Gessler, der Landvogt, der Lump, kennt ja keine Güte. Tell muss ran ans Schießwerkzeug. Natürlich durchbohrt er den Apfel auf dem Kopf seines Knaben und – später – des Landvogts Herz aus dem Hinterhalt: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Es führt kein anderer Weg nach Küssnacht. Hier vollende ich es!“ Anlass für viel Jubel in den Schweizer Tälern. Nach wie vor. Das Schreckgespenst hat ausgespukt. Friede, Freude, Wilhelm Tell.

„Wilhelm Tell“. Nach Friedrich Schiller. Neu erzählt von Barbara Kindermann. Mit Bildern von Klaus Ensikat. Kindermann Verlag, Berlin 2004, 36 Seiten, 15,50 Euro