„Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“ im Metropolis
: Ein Fall von doppelter Des-Information

In den 20ern waren abenteuerliche Reisen nach Sowjetrussland ein kultureller Topos. In Hergés Tim im Lande der Sowjets (1929) enttarnen Struppi und der Held, unterwegs als Reporter einer Zeitung des katholischen Jugendbunds, die Sowjets als Betrüger. In der turbulenten Sowjet-Komödie Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki (1924), dem ersten Spielfilm von Lev Kuleshovs legendärem Film-Workshop, sind die ideologischen Vorzeichen natürlich genau umgekehrt.

Kein Wunder, dass sich der bildungsreisende amerikanische YMCA-Präsident John West vor dem revolutionären Osten fürchtet: US-Medien zeichnen die Bolschewisten als grimmige Wilde mit Schnauzern und Säbeln. Deshalb nimmt Mr. West zum Schutz den schießfreudigen Cowboy Jeddy (Boris Barnet) mit. Der beiden Paranoia führt zu einer Kette grotesker Zwischenfälle auf den Straßen Moskaus – spektakuläre Verfolgungsjagden, akrobatische Schlägereien, Missverständnisse auf der ganzen Linie. Ideologiekonflikt als Slapstick. Die Fronten scheinen klar.

Der ganze Klamauk ist im damals neuen Sowjetstil geschnitten, mit rasanten Parallel- und anderen Montagen. Kuleshovs Workshop wurde mit Montage- Experimenten berühmt, in denen die Beinflussbarkeit der Wahrnehmung durch Bilderketten belegt wurde („Kuleshov-Effekt“). Angesichts der vermeintlich US-kritischen Stoßrichtung von „Mr. West“ ist es eine Ironie, dass das sowjetische Kino seine Montagetricks gerade vom jungen US-Kino abgekuckt hatte. Während Eisenstein später die Montage zu leninistischen Gedankenallegorien aufbretzelte, wollte Kuleshov sie bloß zur filmischen Intensitätssteigerung nutzen – wie er 1922 in einem Aufsatz darlegte, der den schönen Titel „Amerikanismus“ trägt.

Dem Film geht es aber auch inhaltlich weniger um das, was man heute gern kurz Anti-Amerikanismus nennt. Zwar werden die beiden Amis als ziemliche Lackl dargestellt. Doch John West als Harold Loyd-Verschnitt und Cowboy Jeddy als lassoschwingender Rabauke sind genauso klar überzeichnet wie die Bolschewiken im US-Magazin, und außerdem meinen die beiden es nicht böse, sind nur desinformiert. Das ideologische Gewicht von Mr. West liegt, entsprechend der relativen außenpolitischen Stabilität Mitte der 20er, eher auf dem inneren Feind. Er hat hier die Sowjet-typische Gestalt einer Bande herabgekommener Adliger, die sich nunmehr als Kriminelle an der sozialistischen Arbeit vorbeimogeln. Sie stellen dem gutgläubigen Mr. West eine aufwendige Falle und spielen ihm ein bolschewistisches Moskau vor, das seine schlimmsten Vorurteile noch an Unmenschlichkeit übertrifft.

Diese Intrige ist eine komplexe Verschachtelung von Propagandafronten, ein Fall von Des-Des-Desinformation. Ein ominöser Graf (Vsevolod Pudovkin, neben Eisenstein und Dovzhenko der wichtigste frühe Sowjetregisseur) freundet sich mit Mr. West an und gaukelt ihm auf einer Stadtführung vor, die bösen Sowjets hätten die Universität und das Bolschoi-Theater eingerissen. Nach einer inszenierten Verhaftung wird Mr. West wegen seiner Socken mit Sternenbanner-Muster in einem Scheinprozess von den Gaunern zum Tode verurteilt.

Freikaufen kann er sich nur mit vielen, vielen Dollars. Die echte Polizei rettet ihn dann aber und führt ihm stolz Universität, Bolschoi-Theater und marschierende Bolschewiken vor. Alles prima in Sowjetland. Ein begeisterter Mr. West telegraphiert nach Hause, man solle schon mal ein Lenin-Bild an die Wand hängen. Nur war Lenin 1924 gerade gestorben. Dass die Methoden der Gauner denen Stalins zum Verwechseln ähneln, der bald zum absoluten Herrscher aufsteigen und Kuleshov das Leben schwer machen sollte, gibt dem Film eine unheimliche prophetische Dimension. Jakob Hesler

Dienstag und Mittwoch, 20 Uhr, Metropolis; Live-Musik: Tuten und Blasen