Grapschen und Scheinerschießungen

Immer mehr Soldaten des österreichischen Bundesheeres melden Misshandlungen und Belästigungen im Dienst. Verteidigungsminister Günter Platter sieht sich gefordert, nach den Vorwürfen personelle Konsequenzen zu ziehen

WIEN taz ■ Als hätte ein Video, das Misshandlungen bei der Grundausbildung dokumentiert, ein Ventil geöffnet, dringen fast täglich neue Klagen aus Österreichs Kasernen. Der jüngste Fall wurde von zwei Frauen in Klagenfurt an die Öffentlichkeit gebracht. Sie sei von einem Vizeleutnant wiederholt begrapscht und von zwei Feldwebeln gemobbt worden, sagte eine 27-jährige Exsoldatin aus. Nach einem halben Jahr habe sie entnervt gekündigt. Ein ähnlicher Fall in derselben Kaserne wird derzeit noch untersucht. Frauen kommen in Österreich nur als Freiwillige zum Bundesheer. Für junge Männer besteht Wehrpflicht von derzeit acht Monaten.

Die Belästigungsvorwürfe aus Kärnten werden nur ein Nachspiel für die betroffenen Unteroffiziere haben. Anders die erwiesenen Misshandlungen in Kasernen in Oberösterreich und Tirol: sie erschüttern die oberste Führung des Bundesheeres.

Denn jüngst bekannt gewordene Dokumente beweisen, dass der Generalstab und der Kabinettschef des Verteidigungsministers, vielleicht sogar Verteidigungsminister Günter Platter selbst, Kenntnis von Übungen hatten, bei denen Grundwehrdienstleistende als Geiseln eingesetzt wurden.

Ein Merkblatt „Schutz“, das während der weltweiten Terrorismushysterie im Jahr 2002 verfasst wurde, empfiehlt, das Verhalten bei Geiselnahmen zu trainieren. Allerdings überlässt es die Ausführungsbestimmungen späteren Weisungen. Diese erließ Minister Platter erst im Oktober diesen Jahres. Bis dahin hatten also die Ausbilder freie Hand.

Zwar hatte das Jagdkommando Wiener Neustadt im Jahre 2003 in einem Brief an das Verteidigungsministerium erstmals gewarnt, dass bei solchen Übungen psychische und physische Schäden bei Grundwehrdienstleistenden zu befürchten seien. Doch passierte zunächst gar nichts. In der Antwort des Ministers hieß es lapidar, man sehe das Problem.

Dennoch konnte wenig später in Landeck in Tirol eine Geiselübung stattfinden. Junge Rekruten mussten stundenlang mit gefesselten Händen und einer Kapuze über dem Kopf bei winterlicher Kälte kniend ausharren. In der Kaserne Bludesch übte man Schein-Erschießungen.

Die Ausbilder verstießen damit, wie der grüne Wehrsprecher Peter Pilz aufzeigt, gegen eine heeresinterne Weisung aus dem Jahr 1995. „Es ist verboten, ‚Gefangene‘ oder ‚Verdächtige‘ bei Übungen unwürdig oder entehrend zu behandeln“, heißt es dort: „Solche Personen dürfen auch nicht festgebunden, gefesselt oder eingesperrt werden.“ Paragraph 35 des Militärstrafgesetzes ist nicht weniger deutlich. Er droht Vorgesetzten, die „einen Untergebenen oder Rangniedereren in einer die Menschenwürde verletzenden Weise behandelt“ Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren an.

Alle bisher bekannten Fälle von ähnlichem Missbrauch stammen aus dem Wirkungsbereich der 6. Jägerbrigade, die über ganz Österreich verteilt ist. Verteidigungsminister Günter Platter geriet angesichts immer neuer Vorwürfe unter Zugzwang. Letzte Woche entzog er dem Generalmajor Christian Segur-Cabanac die Rekrutenausbildung und ordnete sie dem Planungsstab zu. Damit sei „gewährleistet, dass meine Anweisungen bezüglich der neuen Richtlinien straff und effizient umgesetzt werden können“.

Österreichs Opposition geht jedoch davon aus, dass weitere Konsequenzen aus der Affäre folgen müssen. RALF LEONHARD