bücher aus den charts
: Das andere Leben

Er gehört zu den von vielen Menschen am innigsten gehegten Wünschen, geht aber nur selten bis nie in Erfüllung: einmal das eigene Leben verlassen und in ein anderes treten. Raimund Gregorius, alternder Lateinlehrer eines Gymnasiums in Bern, erfüllt sich in Pascal Merciers Roman „Nachtzug nach Lissabon“ ansatzweise diesen Wunsch. Gregorius verlässt mitten in einer Schulstunde den Unterricht und kehrt nicht zurück. Die Begegnung mit einer rätselhaften Portugiesin und das Buch eines portugiesischen Arztes namens Amadeu de Prado, in dem Sätze stehen wie „Von tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen wir höchstens eine zur Sprache, und auch diese nur zufällig und ohne die Sorgfalt, die sie verdiente“, lassen ihn nach Lissabon reisen – um sich auf die Spur des Arztes zu machen, aber auch, um „die Geheimnisse unter der Oberfläche des menschlichen Tuns“ zu entdecken und dabei die eigenen inneren Bezirke hell auszuleuchten.

So furios und aufregend der Auftakt von Merciers philosophischem, erstaunlicherweise seit sieben Wochen auf den Dreißigerrängen der Charts gelistetem Roman, so frei von Überraschungen lässt sich jedoch Gregorius’ Lissabonner Spurensuche an. Eine zufällige Begegnung hier, eine dort, schon bewegt er sich mitten in Amadeu de Prados Welt. Das hat etwas Vorhersehbares, Statisches, jede noch lebende Person aus dem Umfeld des 1973 verstorbenen Arztes bekommt wie an einer Schnur aufgereiht ihren Auftritt: seine Schwestern, sein bester Freund, ein alter Widerstandskämpfer, seine Lebensfrauen. Viele von ihnen haben natürlich auch noch Schriftstücke von Prado.

Trotz dieses leichten literarischen Fertigbaus ergeben die Erzählungen von Prados Lebensbegleitern und sein von Gregorius immer wieder zur Hand genommenes Buch nach und nach das komplexe, aus vielen inneren Widersprüchen bestehende Bild eines durchaus faszinierenden Menschen. Prado ist Wunderkind und Bücherwurm, eloquenter jugendlicher Gotteslästerer und geistiger Überflieger, dessen „quecksilbrige Intelligenz“ vielleicht ein-, zweimal zu oft betont wird, schließlich Arzt und Widerstandskämpfer: Den Beruf ergreift er allein dem schwer rückenkranken Vater zuliebe. Und in den Widerstand geht er aus paradoxen Schuldgefühlen, weil er einem Schergen des Salazar-Regimes das Leben rettet.

Im Folgenden geht es ganz profan um Liebe und Freundschaftsverrat, weniger profan um Verantwortung für das Leben anderer und das schwere Joch der Familie, um Spiegelungen und Selbstspiegelungen, um den Sinn des Lebens und den Unsinn des ewigen Lebens, um die Angst vor dem Tod, vor der Einsamkeit, vor dem unvollständigen Leben. Das alles entspringt meistens dem Bewusstseinsstrom Prados und mündet schließlich in einer letzten Sequenz, in der Gregorius eine Frau trifft, mit der Prado seinerzeit seinen Hunger nach dem richtigen Leben stillen wollte, von der er aber abgewiesen wurde.

Auffällig an Merciers Roman ist, dass die Figur des Gregorius zunehmend blasser wird und hinter Prado fast verschwindet – das mag seine inhaltliche Richtigkeit haben, lässt aber kurz auch an Pascal Mercier selbst denken, der eigentlich Peter Bieri heißt und im Erstberuf Philosophieprofessor an der FU in Berlin ist. Gregorius’ gedankliche Ausflüge bleiben jedenfalls schemenhaft, die Parallelbewegung zu Prado unvollständig, und fast ein bisschen zu aufgesetzt wirken Motive wie die neue Brille, die Gregorius in Lissabon bekommt (der bessere Durchblick!) oder der Schwindel, der ihn immer öfter anfällt (die tiefe Verstrickung in das andere Leben, ein Strudel!). Das Leben besteht in diesem Roman vor allem aus den Gedankengebäuden Prados, da helfen keine Lissabonner Impressionen oder ein sich ständig „wölbender“ Himmel. Was aber durchaus auch die Größe dieses Romans ausmacht, der eine schöne Anleitung dafür ist, das schwierige Handwerk der Freiheit zu erlernen. GERRIT BARTELS

Pascal Mercier: „Nachtzug nach Lissabon“. Hanser, München 2004, 495 S., 24,90 Euro