Und jährlich grüßt das Kanzlertier

Er hält seine Neujahrsansprache erst heute Abend (20.05 Uhr, ARD) – aber was Gerhard Schröder uns sagen wird und wie er es sagen wird, kann man sich schon denken. Eine vorgezogene Rezension

Nächstes Jahr wird alles besser. Immer nach vorne blicken – nach Schröder-Art

VON BARBARA HÖFLERUND TOBIAS MOORSTEDT

München, 31. 12. 2003, 20.10 Uhr. Kanzler Schröder auf dem Bildschirm, mitten in der Neujahrsansprache. Wir dachten erst, es sei die vom letzten Jahr. Er trägt die gleiche Krawatte, rot, mit Streifen, weil die auf dem Bildschirm so gut wirkt. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, beginnt er, wie immer, immer wieder, wenn er einen neuen Themenkomplex berührt, ernst, gemessen, mit gefalteten Händen, es war kein einfaches Jahr für Deutschland. Wieder nicht. Und auch wenn niemand zuhört und die Einschaltquoten miserabel sind: Am 1. Januar beginnt eine neue Zeit.

Schröder am Fenster im Kanzlerbunker, Fernsehstudio und Reformbüro. Im Hintergrund, unten rechts, schimmert der Reichstag ins Bild. Same procedure as every year, aber: Wir haben das größte Reformprojekt in der Geschichte der BRD beschlossen.

Da wunderten wir uns nur, warum das BDI-Präsident Rogowski nicht persönlich vorgetragen hat. Die Neujahrsansprache hält der oberste Entscheider – so ist’s Brauch. Aber Rogowski hätte vielleicht gesagt, dass wir uns Kinderarbeit endlich wieder leisten dürfen müssen. Womöglich wäre das zu ehrlich gewesen. Schröder hingegen kennt seinen Text. Er freut sich im eng sitzenden Anzug über seine Handlungsfähigkeit und ein erfolgreiches Jahr 2004 – ein Wahljahr, natürlich.

Die Neujahrsrede ist die direkte Ansprache des Regierenden an die Regierten, des Nationaltrainers an die Mannschaft, im gleißenden Scheinwerferlicht, fast blendet es. Noch ein Vorteil für den Redner: ein Talkshowformat ohne Konkurrenz, das Privileg der Stars. Ungestört von Sabine Christiansen und den anderen Stammgästen wickelt der Bundeskanzler eine glitzernde Staniolverpackung um die harte Wirklichkeit herum. Das war schon immer so, aber dieses Jahr gab es besonders viel zu wickeln. Hartz, Herzog, Merz, Rürup – Schleife rum, fertig. Ganz nach Drehbuch. Aber etwas tickt unter der Verpackung – oder sind es doch nur die Lautsprecher vom Telefunken?

Packen wir aus: Lockerung des Kündigungsschutzes, Arbeitslose werden nach zwölf Monaten zu Langzeitarbeitlosen, stigmatisiert mit Mini- und Multijobs – wir kriegen ein neues Gesellschaftsspiel. Mit neuen Regeln. Die alten jedenfalls gelten nicht mehr. Art 5 GG: „Alle Deutschen habe das Recht, Beruf und Arbeitsplatz frei zu wählen“ – wenn die wirtschaftliche Lage stimmt. Sie stimmt nicht, wird Michael Rogowski morgen auf dem Neujahrsempfang des BDI sagen und die Privatisierung auch der anderen Spielregeln fordern.

Davon spricht Schröder nicht. Er spricht von Einsatzbereitschaft und Leistung, die sich lohnt. Eigentlich spricht er vom Wunder von Bern, aber das hat Johannes Rau schon in der Weihnachtsrede verbraten. Bei diesem Film hat Schröder, das Arbeiterkind, geweint – dreimal, nach eigener Medienaussage. Gefühl genug hat er also, um alle vom Happy End zu überzeugen. Vom Wunder von Berlin, das uns Deutsche eint – von Fließband bis Eckbüro und -fahne arbeiten alle mit.

Zu diesem Zeitpunkt geht ein verfrühter Böller vor dem Fenster hoch. In Amerika haben die Menschen Angst, ein Flugzeug könnte ihnen ins Wohnzimmer fliegen. Die haben Code Orange gekriegt, wir die Agenda 2010. Der Effekt ist der gleiche: „Der Tod als Drohung ist die Münze der Macht. Es ist leicht, hier Münze auf Münze zu legen und enorme Kapitalien anzusammeln.“ (Canetti) Die Todesdrohung à la Schröder: der ökonomische Exitus. Der jeden trifft, der sich nicht an die neuen Spielregeln hält, auf einem Schachbrett, das ganz langsam kippt.

In der Neujahrsansprache sagt der Kanzler, wo es lang geht. Die Route, die uns Schröder vorschlägt für den langen Marsch der nächsten zwölf Monate: Ein klares Ja zu seinen Reformen, anders geht es nicht. Ein Ja zu den Ich-AGs, die ohne Rücksicht auf lokale und soziale Bindungen in Projekten leben und denken. Eigenverantwortung eben. Klingt nach Selbstständigkeit, Freiheit und der Fähigkeit sich die Schnürsenkel zuzubinden. Eine kleine Motivationshilfe zum Silvesterprost. In der Vorsatz-Hochkonjunktur dieser Tage wird Selbstverbesserung erwartet.

Nächstes Jahr wird alles besser. Immer nach vorne blicken – nach Schröder-Art: „Weil wir in Deutschland gelernt haben: Wir sind Teil der einen Welt. Lassen Sie uns mit Vertrauen und Zuversicht ins neue Jahr gehen.“ Wir gehören zusammen. Wir haben das durchgestanden. Wir gehen durch dick und dünn. Ziel jeder Rede ist es schließlich, die Zweiheit von Sender und Empfänger zu einer Einheit des Wollens und Glaubens zu befördern.

Gerhard Schröder faltet seine Hände. Es war kein einfaches Jahr für Deutschland

Das Fernsehen hat Vorarbeit geleistet. Im medialen Kontext der Endzeitwochen zitiert Schröder abermals Katastrophen und Siege, bedauert Opfer, feiert Helden: die deutschen Soldaten am Hindukusch, dieses Jahr gab es ja keine Flut, Deutschlands Beste und die anderen. So trennt sich die Spreu vom Weizen, Florida Rolf von Jan Ullrich, der Sozialschmarotzer vom Sportler des Jahres. Weil der eine von unserem Geld da lebt, wo wir nicht Urlaub machen können, und der andere „ein Kämpfer ist“, wie der ZDF-Kommentator betont, „von einem Publikum bejubelt, das genau so leidenfähig ist wie er“. Mit neudeutschen Tugenden und Team Telekom die höchsten Berge überwinden!

Wie er da steht, mit erhobenen Händen, die Arme weit ausgebreitet, bereit alle zu integrieren, in die deutsche Schicksalsgemeinschaft, ins „Zentrum der Zuversicht“. Doch im gleichen Moment, in dem Schröder „wir“ sagt – und er sagt es oft – desintegrieren seine Reformen „die anderen“ aus dem Gesellschaftskörper. Seinen erhobenen Händen fehlt nur noch die Peitsche, um die, für die Leistung keine Frage des Wollens mehr ist, von den leer gefressenen Weiden des Sozialstaats zu treiben. Im deathmatch um die letzten Arbeitsplätze überlebt nur der Homo öconomicus, der vollkommen rational denkende Mensch, der sich Schlenker zu Solidarität und Mitmenschlichkeit nicht leistet. Schröders Reformen machen aus Mitbürgern Konkurrenten, Wölfe sozusagen. Das ist der Subtext unter Schröders Fernsehrede, und er war es viele Silvester davor. „Das Kapital hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten, die einer gewissenlosen Handlungsfreiheit gesetzt.“ Jedes Jahr ein bisschen mehr. Marx und Engels, 1848.

Meine lieben Mitbürger: Schröder spricht alle an, aber nicht alle können sich wehren. Alle sind auch gar nicht gemeint. In den 80er-Jahren prophezeite Jean Baudrillard das Auftreten einer „vierten Welt“ – die vom Schachbrett gefallenen Figuren; mit der Aussicht auf 30 Jahre Sozialhilfe, wenn’s gut geht, statt Selbstverwirklichung durch Arbeit. Im Niemandsland/Hinterland verlieren sie laut Baudrillard „erst die Arbeit, dann die Krankenversicherung, zuletzt das Auto, und ohne driver’s licence keine Identität“. Paradox, dass genau sie die Einschaltquote sind. Den Fernseher nehmen sie einem zuletzt.

Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein frohes und gesundes, ein friedliches und erfolgreiches neues Jahr, sagt der Kanzler. In diesem schönen Jahr gibt es in Deutschland voraussichtlich 4,45 Millionen Arbeitslose. Es wird eng in der vierten Welt. Wir müssen nicht an Marx glauben. Aber schalten wir den Fernseher aus.