jahresrückblick: müttergenesungswerk 2004 von CAROLA RÖNNEBURG
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Die Rabenmutter war ins Grübeln gekommen. Da schlenderten wir im Frühsommer dieses Jahres zu zweit die Strandpromenade eines spanischen Städtchens hinunter, und das Rabenjunge war in der Heimat geblieben! Hätte sie es nicht doch mitnehmen müssen? Obwohl es sich gebärdet hatte, als sei es fast flügge und längst nicht mehr für Besichtigungstouren und Gewaltmärsche zu haben? „Ist das jetzt etwa anstrengend“, fragte sie, „ein paar hundert Meter zum Strand laufen?“

Nein, beruhigte ich sie, das war es nicht. Und wenn ein Rabenjunges, das noch auf keinerlei Erfahrung mit wahrhaft peniblen Burgverliesinspektionen nach kilometerlangen Anreisen zu Fuß zurückblicken konnte – wir beide wussten nur zu genau, wie solche Unternehmungen aussahen –, seinen Horizont partout nicht erweitern wollte, dann war es nur recht und billig, eine Woche Ferien vom Nachwuchs zu machen. Die Rabenmutter plagte aber weiterhin ein schlechtes Gewissen. „Es hätte ihm hier doch bestimmt gefallen“, meinte sie, „wahrscheinlich wäre er überhaupt nicht mehr aus dem Wasser herausgekommen.“ Dann fiel ihr die Diskussion über das inakzeptable, weil swimmingpoollose Hotel wieder ein. „Außerdem ohne Fernseher“, murmelte sie vor sich hin, „jawohl, und dabei bleibt es auch!“

Ich schob die Rabenmutter auf einen Platz in einem Freiluftlokal. Wir sollten etwas trinken, schlug ich vor, Zeitung lesen und vielleicht ein paar Postkarten schreiben. Sie war einverstanden. Die Sonne ging unter, wärmte uns aber noch, ein Lüftchen wehte. Ich nahm die Postkarten aus meiner Tasche und suchte nach einem passenden Motiv für meine Eltern. Die Rabenmutter lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte die Beine aus. „Lieber Sohn“, sprach sie Richtung Meer, „viele Grüße vom größten Swimmingpool Spaniens. Es ist sehr schön hier. Deine Erziehungsberechtigte.“

Ein Kellner brachte uns zwei Gläser Cava und eine Portion Tapas. „Liebe Eltern“, schrieb ich langsam. Die Rabenmutter trieb eine Olive über den Teller. „Lieber Sohn. Hier ist unglaublich viel los. In unserem Hotel wohnt ein Geheimagent, der uns gestern wichtige Unterlagen anvertraut hat. Wir sollen sie in seinem Spezialauto nach Madrid bringen und sie dort an eine Kontaktperson übergeben. Ich kann Dir jetzt leider nicht mehr erzählen, weil ich noch üben muss, wie man den Wagen fliegt. Herzliche Grüße …“ Sie prostete mir zu. Ich bot der Rabenmutter eine Auswahl Postkarten an, aber sie lehnte ab. „Moment noch. Lieber Sohn – mit den Spezialschuhen, die uns der Geheimagent gegeben hat, kann man mühelos an einer Fassade hochlaufen und dann, dank eingebauter Sprungfedern, von Dach zu Dach springen. Die Agenten der Gegenseite, die uns mit ihren dunklen Sonnenbrillen Tag und Nacht belauern, können wir so locker austricksen. So ein Spanienurlaub ist eben eine feine Sache! Liebe Grüße …“

Als wir aufbrachen, um noch einmal die Füße ins Meereswasser zu halten, sah die Rabenmutter wieder zufrieden aus. „Ich finde, wir sollten nachher sehr, sehr gut essen gehen“, sagte sie, „das steht uns zu.“ Sie breitete die Arme aus. „Lieber Sohn: Heute haben wir die Simpsons am Strand getroffen!“