Der selbstbewusste Nachbar

Deutschland hat seinen pazifistischen Platz in der Welt gefunden. Der Historiker Gregor Schöllgen lobt in seiner kundigen Analyse den „Auftritt“ der alten, neuen Großmacht

Für den deutschen Sonderweg wird bisher keine Maut verlangt. Umso mehr freuen sich die Deutschen darüber, dass sie wieder lautstark auf ihrem nationalen Interesse beharren dürfen. Zwar ist bisher nicht klar, worin ein solches bestehen könnte. Die Frage nach der Substanz der neuen deutschen Außenpolitik aber ist für deren Anhänger ohnehin zweitrangig. Sie berauschen sich allein daran, dass, wie der Kanzler verkündet hat, „über die existenziellen Fragen der deutschen Nation in Berlin entschieden“ wird – auch wenn die Resultate höchst umstritten sind.

Zu verdanken ist dies Gerhard Schröder und seiner wilhelminesken Ausrufung des „deutschen Weges“. Historisch gesehen lag am Ende einer solchen Wegstrecke stets ein größeres und mächtigeres Deutschland. Nicht zufällig erinnert das neue Selbstbewusstsein etwa an den späteren Reichskanzler Graf Bernhard von Bülow, der 1897 in einem ähnlichen Tonfall vor dem Reichstag proklamierte: „Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber.“

Mit dem Irakkrieg hat sich die internationale Rolle Deutschlands einmal mehr von Grund auf gewandelt. Einer, der dies erkennbar goutiert, ist der Historiker Gregor Schöllgen. In seinem Essay „Der Auftritt“ zeichnet der Professor für Neuere Geschichte die „Rückkehr Deutschlands auf die Weltbühne“ von der Wiedervereinigung bis zum Frühjahr 2003 nach und analysiert den Versuch der rot-grünen Bundesregierung, das Verhältnis zu den USA gründlich zu reformieren – eines der wenigen Unterfangen, das Gerhard Schröder nachhaltig geglückt ist.

Auch für Schöllgen ist die wahltaktisch motivierte Ausrufung einer nationalpazifistischen Koalition ein Glücksfall der Geschichte. Im Irakkrieg habe „Deutschland seinen Platz“, hätten vor allem aber die Deutschen „zu sich selbst gefunden“. Das Ergebnis ist eine Zäsur in der Weltpolitik: „Die transatlantische Epoche geht zu Ende.“

Es ist vor allem die Begeisterung hierüber, die befremdlich wirkt. So sieht Schöllgen in der Konfrontation mit den USA einen Akt der Emanzipation. Die Rede ist von „respektlosen Bevormundungsversuchen“, einem „unverändert imperialen Stil der amerikanischen Europapolitik“ und „unverhohlenen Drohungen“. Mit dieser „überlebten Epoche“ aber soll nun Schluss sein: „Was seine zivilisatorische Kompetenz, seine kulturelle Vielfalt, aber auch den Umgang mit der eigenen Geschichte angeht, braucht Europa den Vergleich wahrlich nicht zu scheuen, jedenfalls nicht denjenigen mit den USA.“

Die Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands erscheint als Periode der Fremdbestimmung. Die Nebenwirkung, die diese „imperiale“ Politik in Gestalt des Grundgesetzes mit sich brachte, spielt keine Rolle. Stattdessen müssen bei ihm sich die Deutschen „seit den fünfziger Jahren auf die Lippen beißen“, ja, sie haben sich sogar „nicht selten die Zähne ausgebissen“ angesichts des Abschieds „von der Vorstellung, eigenständig Politik treiben zu können“.

Schöllgen wirbt für ein deutsches und europäisches Interesse, das nun frisch und unbefangen formuliert werden darf, kann und muss. Europa als Gegengewicht zu den USA und Deutschland neuerdings mittendrin: Wegen seines politischen Gewichts, weltweiten militärischen Engagements und seiner „historisch begründeten Reputation in der Dritten Welt“ sei Deutschland „wie kaum ein anderes Mitglied der Europäischen Union gefordert, daran federführend mitzuwirken“. Selbst die neue Freundschaft mit dem Halb-Rechtsstaat Russland erscheint in „Deutschlands Antwort auf Amerika“ (Werbung des Verlags) noch als Fortschritt: „Deutschland hatte seinen Platz gefunden: an der Seite der Großmächte des alten Kontinents.“

Vor allem aber erweckt Gregor Schöllgen den Eindruck, es gebe eine Art natürlichen Anspruch Deutschlands auf eine führende Rolle, die diesem nun einmal „zugefallen“ sei. Die Geschichte in ihrem Lauf – hält weder Ochs noch Esel auf. Für den Historiker gibt es keine Entscheidungen der Machthaber mehr, sondern nur noch Geschichte und ihre willigen Vollstrecker: „Geschichte wird nicht gemacht. Sie findet statt.“

Welcher Art die europäischen – und damit deutschen – Interessen zu sein hätten, ist dem Autor, nebenher auch Ausbilder von Jungdiplomaten im Auswärtigen Amt, übrigens keine Erwähnung wert. Seine Begeisterung gleicht derjenigen der Insassen eines Schiffes ohne Kompass, das mit Volldampf voraus fährt.

ANDREAS SPANNBAUER

Gregor Schöllgen: „Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne“. Propyläen Verlag, Berlin 2003, 176 Seiten, 18 Euro