Europas größter Bilanzskandal

Das Milliardenloch in den Bilanzen des italienischen Lebensmittelkonzerns Parmalat wird größer. Staatsanwaltschaft spricht von „zahlreichen Manipulationen“. Trotzdem hofft Konzernchef Bondi auf Hilfe aus der Politik. Es geht um 36.000 Jobs

AUS BERLIN BEATE WILLMS

Dieses Tempo und diese Größenordnung kannte man bislang nur aus der New Economy und den USA. Vor zwei Wochen hatte der italienische Lebensmittelkonzern Parmalat einen ersten Kreditausfall in Höhe von 150 Millionen Euro zugeben müssen. Am Ende vergangener Woche klaffte schon eine Lücke von 4 Milliarden Euro in den Bilanzen. Gestern war sie auf bis zu 10 Milliarden Euro angewachsen.

Die Aktie notierte nachmittags bei 10 Cent und soll heute nicht mehr im Leitindex MIB der Mailänder Börse vertreten sein. Eine Reihe großer Nahrungsmittelkonzerne hat schon mal Interesse für einzelne Töchter der Gruppe angemeldet. Trotzdem hofft der neue Vorstandschef Enrico Bondi auf ein Wunder. Statt den erwarteten Gang zum Insolvenzrichter anzutreten, traf er sich gestern erst einmal mit Industrieminister Antonio Marzano, um über Auswege zu beraten.

„Es gibt zahlreiche Bilanzmanipulationen“, bestätigte der Mailänder Vizestaatsanwalt Angelo Curto in einer ersten Einschätzung der Ermittlungen. Vor allem die Bücher der auf den Cayman-Inseln ansässigen Parmalat-Tochter Bonlat seien „nicht verlässlich“. Die Financial Times berichtete, dass in den Bilanzen ein 4-Milliarden-Euro-Konto von Bonlat auftauche, das gar nicht existiert, außerdem die Tilgung einer Anleihe von 2,9 Milliarden Euro, die in Wirklichkeit noch aussteht. Die Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera erwähnte Schulden von Parmalat allein gegenüber der US-Investmentgesellschaft Blackstone Group in Höhe von weiteren knapp 3 Milliarden Euro, die möglicherweise noch auf diesen Fehlbetrag aufgeschlagen werden müssten. Damit würde die Lücke den Jahresumsatz der Gruppe von rund 7,6 Milliarden Euro (2002) weit übersteigen. Falls diese Recherchen stimmen, gibt es gute Gründe zu vermuten, dass die Parmalat-Bilanzen systematisch gefälscht wurden. Und dass die Kontrollinstanzen ebenso jämmerlich versagt haben, wie die in den USA bei den Skandalen um Enron & Co.

Experten gingen davon aus, dass Bondi nun Gläubigerschutz beantragen wird, um Luft zu bekommen. Immerhin geht es auch um die Rettung von rund 36.000 Arbeitsplätzen an 140 Produktionsstätten in 30 Ländern. Das italienische Konkursrecht bietet dabei zwei Wege: Wenn absehbar ist, dass die Krise nur temporär ist, kann das Gericht einen Verwalter einsetzen, der das Management überwacht. Scheint eine baldige Normalisierung nicht erreichbar, wird das Unternehmen unter Zwangskontrolle gestellt, den Verwalter ernennt der Industrieminister. Da bei Parmalat eher die zweite Variante in Frage kommt, dürfte die Vorbereitung der Personalie ein Thema des Treffens von Bondi und Marzano gewesen sein.

Angesichts der schnellen Unterstützungszusage aus der Politik forderte die EU-Kommission in Brüssel Transparenz. „Wenn die Regierung eingreifen will, muss sie dies in enger Zusammenarbeit mit uns tun“, sagte ein Sprecher. Nach EU-Recht wären beispielsweise kurzfristige Überbrückungskredite möglich, die verzinst werden müssten.