Kartographie des Morbiden

Die produktive Engstirnigkeit des kleinen Bremer manholt-Verlages hat ein beachtliches Programm hervorgebracht: Fast immer deutsche Erstveröffentlichungen meist toter Autoren. Ein Archiv von Bruch- und Fundstücken

Der Verleger und seine Besessenheit: „Ich möchte das von Idealismus klar unterschieden wissen“

Von Tim Schomacker

„Was machen Sie im Augenblick? Ich leide.“ Ein Erzähleingang wie eine Motorsäge. Da ist etwas im Gange. Im Körper dieser Ich-Figur: „Erste Anfänge einer Krankheit, die mich überall abtastet, sich einzunisten versucht. Dagegengestellt das Subjekt – wir schreiben die Blütezeit der klassischen Moderne –, das sich wahrnehmen will. Als handelndes Wesen. Es begibt sich auf die Suche nach einem Mehrwert, der über schlicht Kreatürliches hinausgeht: „Ich kann jeden Moment meines Schmerzes datieren.“ Und schreibt.

Frei von Selbstmitleid, wird jenes Titel gebende „Land der Schmerzen“ kartographiert. Die Syphilis im Endstadium gibt Berge und Täler, breite Ebenen und schmale Grate vor. Die Entscheidung aber, an der Weggabelung links abzubiegen, oder rechts, bleibt beim Wanderer: „Was machen Sie im Augenblick? – Ich leide.“

Alphonse Daudets (1840 - 1897) Roman „Im Land der Schmerzen“ erschien zuerst 1930. Auf die französische Wiederveröffentlichung im vergangenen Jahr folgte 2003 die erste deutschsprachige Ausgabe. Dem Text eignet eine brutale Ehrlichkeit, ja Kälte. Mit dem Schreiben verbindet Daudet, dieser „wundervoll kranke Mann“ (Proust), den Versuch, sich wieder des Körpers zu bemächtigen, den ihm die Krankheit streitig macht. Kriegsschauplätze dieser Art ziehen sich wie ein roter Faden durch das Angebot des Bremer manholt Verlags.

Die knapp 100 Bücher – meist Übersetzungen aus dem Französischen – bilden ein Archiv von Bruch- und Fundstücken. Die große Suche, die man dahinter vermuten darf, zielt auf die Ränder brüchig gewordener Existenzen. Die Figur des Verlegers selbst zeichnet eine Besessenheit aus. „Ich möchte das von Idealismus klar unterschieden wissen“, sagt Dirk Hemjeoltmanns.

Dann erzählt er die typische Gründungsgeschichte eines kleinen Verlages. Typisch? Vielleicht doch nicht. „Idealismus würde ja bedeuten, dass seit fast 20 Jahren reine Selbstlosigkeit waltet.“ Hemjeoltmanns aber ist Egoist, muss es sein: „Ich wundere mich, dass ein Credo à la: ‚bei mir erscheinen nur Bücher, die ich selber gut finde‘ zuweilen als Makel gilt.“

Solch produktive Engstirnigkeit, die betriebswirtschaftlichem Sachverstand mitunter quer im Magen liegt, hat ein beachtliches Programm hervorgebracht: Fast immer deutsche Erstveröffentlichungen von meist toten Autoren. Oft sind es solche, die zu Lebzeiten kaum jemand auf der Rechnung hatte.

Zumindest hierzulande. Da ist der ungemein schlau verspielte Georges Perec zu nennen oder auch der kühle Außenseiter Emmanuel Bove, aber auch der Belgier Georges Rodenbach, der seiner Heimat in „Brügge tote Stadt“ ein morbides Denkmal setzt. Bis hin zum Rimbaud-Verleger Léon Genonceaux, der 1891 unter dem Pseudonym „Princesse Sapho“ einen Roman veröffentlichte, der sich liest wie die Geschichte des Großvaters von „American Psycho“ Pat Bateman: „Der schwarze Prinz vom Montparnasse.“

Es ist nicht leicht, die Vielzahl von Texten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Doch es gibt Aspekte, die den Katalog leitmotivisch durchziehen. Irgendwo zwischen Leiden und Exzess, zwischen Sexualität, Gewalt und Melancholie, markieren die Bücher des manholt Verlages blinde Flecken auf der Landkarte der Moderne und ihrer Existenzen. Verschiedene Schreibweisen nähern sich dem, was kaum sagbar scheint, sie vergegenwärtigen Unwuchten im emotionalen Haushalt, die wir gerne im Dunkeln belassen oder mit ungeheurem sprachlichen Aufwand zuschütten.

Vielleicht nicht zufällig ist ein Zweites, das viele der Texte gemein haben, ihre Knappheit in den literarischen Mittel. Nichts ufert hier aus, selten geht etwas erzähltechnisch aus dem Ruder. Solches ist nicht von Anbeginn ein Ziel gewesen, räumt Hemjeoltmanns ein. Der lesende Verleger aber verfeinert sich als Resonanzkörper für Texte. Und auch ein „komplexes System von Zuträgern“, das Ideen einspeist. Erfahrungen helfen, den Hemjeoltmanns‘schen Prüfstand technisch auszubauen.

„So kommt man dahin, dass man Sätze liest wie ,Was machen Sie im Augenblick? Ich leide‘ – und weiß, es lohnt sich, weiterzulesen.“ Tim Schomacker

Das Gesamtprogramm des manholt-Verlages findet sich unter www.manholt.de