„Wir müssen endlich Schnittstellen schaffen“

taz-Serie „Islam in Berlin“ (Teil 13 und Schluss): Muslime und Nichtmuslime diskutieren über den Umgang mit dem Islam in der Stadt. Ein Gespräch über die schwierige Abgrenzung unter Muslimen, schick gekleidete Islamisten und das schwierige Verhältnis von Staat und Religion

MODERATION SABINE AM ORDE

taz: In den vergangenen zwölf Wochen hat die taz eine Serie zu „Islam in Berlin“ veröffentlicht. In dieser Zeit hat sich die Debatte hierzulande dramatisch verändert. Seit dem Mord an dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh heißt es: Multikulti ist gescheitert. Oder gar: Muslime sind nicht integrierbar. Wo liegt das Problem?

Havva Engin: Diese Debatte ist unsäglich. Nach den Vorfällen in Holland sind ganz schnell Analogien zu Deutschland und zu Berlin gezogen worden, ohne richtig hinzuschauen, was überhaupt vergleichbar ist. Dabei waren gleich Begriffe wie Parallelgesellschaft im Spiel, die eindeutig negativ besetzt sind und die Drohkulisse aufladen.

Hüseyin Midik: Es kann doch kein Zeichen für Nichtintegrierbarkeit sein, dass jemand eine andere Religion oder eine andere Kultur hat. Die Mehrheit in Ostdeutschland sind ja auch keine Christen, und man sagt ja auch nicht, die Ostdeutschen sind nicht integrierbar. Wir müssen uns doch fragen, wie Menschen mit einem unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergrund zusammenleben können. Dabei darf man von den Muslimen nicht verlangen, einen Teil ihrer Identität abzulegen.

Claudia Dantschke: Das Problem ist, dass in der derzeitigen Debatte ganz viele Themen zu einem Brei vermischt werden. Vielleicht gibt es langsam die Chance, zu einer Sachdebatte zu kommen und alles auseinander zu dröseln. Dabei sind zwei Sachen wichtig: Zum einen hat Deutschland nach wie vor ein großes Problem damit, sich selbst als Einwandererungsland zu begreifen. Und darüber nachzudenken, was es heißt, dass wir eine multireligiöse Gesellschaft sind, zu der – neben anderen Religionen – auch der Islam gehört. Davon unabhängig müssen wir uns mit dem Islamismus auseinander setzen, einer totalitären Ideologie.

Reinhard Fischer: Soziale Probleme werden mit Religion vermischt, das ist das Problem. Viele Artikel beschäftigen sich derzeit mit häuslicher Gewalt – auch weil das das Thema des Films von Theo van Gogh war. Aber häusliche Gewalt hat mit Religion erst mal nichts zu tun. In der Mediendiskussion ist es aber miteinander verschmolzen. Man bekommt den Eindruck, dass Gewalt viel häufiger in muslimischen Familien vorkommt. Das ist aber falsch. Wichtig ist außerdem: Ein großer Teil dessen, was derzeit als Integrationsprobleme kritisiert wird, erklärt sich aus Assimilationsängsten.

Was meinen Sie damit?

Fischer: Ein klassisches Beispiel ist die Frage: Schick ich meine Tochter mit auf die Klassenreise und in den Sexualkundeunterricht? Da steckt die Angst drin, dass Teile der eigenen Kultur verloren gehen.

Engin: Widerspruch. In manchen Familien wird ein islamisches Frauenbild vermittelt, das lautet: Die Frau hat hinter dem Mann zu stehen. Dazu passen Sexualkunde und Klassenfahrten nicht. Dafür Verständnis zu haben, weil es sich um andere kulturelle oder religiöse Kodierungen handelt, halte ich für gefährlich. Das dürfen die Schulen nicht akzeptieren.

Fischer: Ich will auf keinen Fall mit kulturellen Kodierungen Verstöße gegen das Schulgesetz legitimieren. Aber als Konflikt zwischen christlichem Abendland und Islam lässt sich das nicht lösen, sondern nur als Konflikt zwischen Schulpflicht und Elternrecht.

Engin: Wichtig ist, dass auf die Eltern zugegangen wird. Man muss mit ihnen auf gleicher Augenhöhe sprechen, ihre Bedenken ernst nehmen, aber auch einen klaren Standpunkt vertreten.

Herr Midik, was kann eine Organisation wie Ditib, immerhin der größte muslimische Dachverband hierzulande, bei einem solchen Konflikt tun?

Midik: Natürlich gibt es Muslime, die ein falsches Bild vom Islam haben. Wir klären unsere Mitglieder auf, das ist unser Konzept. Ob wir genug getan haben und ob wir genug Muslime erreichen, ist natürlich die Frage.

Engin: Ditib erreicht viele Menschen, auch solche Muslime wie mich, die nicht in die Moschee gehen. Was Ditib sagt, hat Gewicht. Ihr Chef, der Ditib-Vorsitzende Ridvan Cakir, hat in einem Interview in der Zeit gesagt: Beim Kopftuch gibt es Interpretationsspielräume, eine Muslima muss es nicht tragen. Das ist in der muslimischen Community, aber auch in der deutschen Öffentlichkeit sehr positiv aufgenommen worden.

Nehmen wir ein anderes Beispiel: den Streit um Moscheebauten.

Fischer: Das ist ja nicht überall konfliktträchtig. Im Bereich Soldiner Straße in Wedding gibt es im Radius von 500 Metern fünf Moscheen. Wenn eine sechste dazukäme, würde es niemanden stören.

Dantschke: Generell aber zeigt dieses Beispiel, dass die Mehrheitsgesellschaft noch immer nicht mit einer heterogenen multireligiösen Gesellschaft umgehen kann. Der Islam gehört zu dieser Gesellschaft und braucht Einrichtungen wie Moscheen. Das ist der eine notwendige Diskussionsstrang. Als zweiten brauchen wir einen politischen Diskurs über eine totalitäre politische Ideologie: den Islamismus. Über beides muss gesprochen werden. In der Diskussion um die Sehitlik-Moschee hat das anfangs funktioniert. Das war keine ablehnende Debatte, bis der Streit um die Höhe der Minarette anfing …

Ditib, zu der die große Moschee am Neuköllner Columbiadamm gehört, hat die Minarette zu hoch gebaut.

Dantschke: Genau, und dann hat sich das mit diesem total hysterischen Moscheediskurs vermischt. Der ist aber auch entstanden, weil manche islamischen Organisationen, die große Bauprojekte planen, total intransparent sind und vorgeben, etwas zu sein, was sie nicht sind.

Midik: Dann muss man aber diese Organisationen ansprechen und nicht uns.

Dantschke: Das müssen aber auch die Muslime tun. Sie müssen damit aufhören, ein homogenes Bild von allen Muslimen vermitteln zu wollen. Ich weiß, dass innerhalb der islamischen Szene heftig diskutiert wird, aber dort herrscht noch immer das Gefühl vor, die inneren Widersprüche dürfen nicht nach außen dringen.

Engin: Die Frage ist doch: Wie brechen wir dieses geschlossene Bild von den Muslimen auf, das oft mit sozialen Problemen verknüpft ist, mit Unterschicht und schlechten Deutschkenntnissen? Diese Diskussion müssen wir innerhalb der Community führen.

Dantschke: Ein Problem ist auch, dass die Organisationen des politischen Islam, wie die Muslimbrüder oder Milli Görüs, bereits reagiert haben. Sie haben in eigenen Bildungseinrichtungen junge Leute ausgebildet, die die Kriterien der Mehrheitsgesellschaft erfüllen. Sie können gut Deutsch, sind eloquent, rhetorisch geschult, modern gekleidet. Sie entsprechen nicht dem Bild, was man hier von Islamisten hat. Sie sitzen inzwischen auf den Podien als Vertreter der Muslime.

Warum unternimmt Ditib nichts dagegen?

Midik: Wir haben da etwas verpasst, aber dieses Eingeständnis löst das Problem noch nicht. Wir haben einfach die nötige Infrastruktur nicht. Das meiste bei Ditib wird ehrenamtlich gemacht von Leuten aus der ersten oder zweiten Generation. Die machen das, wenn ihre Zeit es erlaubt.

Fischer: Eine Möglichkeit, die Heterogenität des Islam in Berlin transparenter machen, sind Veranstaltungen, auf denen verschiedene islamische Gruppen zu bestimmten Themen Stellung nehmen. Wir haben im Soldiner Kiez vier Anbieter von Koran-Kursen eingeladen, die vier sehr unterschiedliche Modelle präsentiert haben. Da wurde für die deutschen Zuhörer deutlich, dass es Unterschiede gibt.

Midik: Ich weiß nicht, ob es weiterbringt, wenn alle Dachverbände auftreten und sagen, wir stehen für das und das.

Engin: Doch. Dann würde ganz anders diskutiert, zum Beispiel über die Rolle der Frau.

Dantschke: Es haben sich hier, in 30 Jahren Diaspora, gewisse Werte konserviert, auch in Ditib-Gemeinden vor Ort. In der Türkei gibt es andere Entwicklungen. Der neue Chef von Diyanet …

der Religionsbehörde in der Türkei, die Ditib gegründet hat …

Dantschke: … der hat erklärt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind – nicht gleichwertig, wie es bislang immer hieß. Und dass ein Muslim jeder ist, der das Glaubensbekenntnis vor Zeugen ausspricht und mehr nicht. Das sind positive Zeichen. Die müssen in die öffentliche Diskussion einfließen und auch in den internen Ditib-Diskurs.

Midik: Was verlangen Sie von mir, von Ditib? Wir haben nie ein Problem damit gehabt, unsere Positionen zu vertreten.

Aber in der deutschen Mehrheitsgesellschaft kommen die unterschiedlichen Positionen bisher nicht an. Warum sagt Ditib nicht zum Beispiel beim Thema Sexualkunde: Wir halten Unterrichtsbefreiungen für falsch.

Midik: Wir haben nach dem 11. September 2001 gleich etwas rausgegeben. Wir haben gezeigt: Hier gibt es Muslime, die das verurteilen, und das ist die Mehrzahl. Trotzdem gab es Leute, die keine Unterschiede gemacht haben.

Engin: Es müssen beide Gruppen angesprochen werden, die Mehrheits- und die Minderheitsgesellschaft.

Kommen wir zur Rolle der Mehrheitsgesellschaft. Was muss da passieren – zum Beispiel mit Blick auf den Moscheenstreit?

Dantschke: Man muss einen differenzierten Diskurs führen. Wir brauchen das Verständnis, dass wir eine heterogene, multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft sind, und wir müssen uns darüber verständigen, wie diese gestaltet werden soll. Wir brauchen auch eine Diskussion darüber, welche Stellung die Religion haben soll. Die Religion, nicht der Islam. Ich bin eine Verfechterin von Aufklärung, und die muss im Kiez stattfinden. Außerdem braucht es politische Signale. Und natürlich brauchen wir eine Debatte über die Gefahren des Islamismus.

Wie könnten solche Signale aussehen?

Engin: Wir brauchen Gesichter. Leute mit muslimischem Hintergrund, die das andere Sehen provozieren. Die öffentlich auftreten und sagen, so einfach ist es nicht, es ist viel differenzierter. Leute wie ich müssen in ihrem Umfeld die Stimme erheben. Für mich als Pädagogin heißt das auch, dass wir in der Schule endlich Raum brauchen, wo wir über diese Themen sprechen können: über Werteerziehung und Religion. Wir müssen endlich Schnittstellen schaffen, wo alle verpflichtend zusammenkommen und miteinander reden.

Dantschke: Und auch über Nichtgläubigkeit. 70 Prozent in dieser Stadt sind areligiös. Die Feindeslinie läuft also nicht zwischen Christen und Muslimen.

Jenseits von Schule – wo können solche Debatten geführt werden?

Engin: Es gibt etwas ganz Plattes: der Tag der offenen Moschee am 3. Oktober. Die Zahl derer, die dann in die Moschee kommen und das Gespräch suchen, wächst. Das ist ein Anfang.

Fischer: Natürlich kann man niemanden zu philosophischen Diskussionen zwangsverpflichten. Man muss versuchen, gemeinsame Interessen zu finden. Das kann ein Straßenfest sein, funktioniert aber auch über Kinder.

Dantschke: Das Gemeinsame im Soldiner Kiez ist doch die Arbeitslosigkeit und die Abhängigkeit von staatlichen Leistungen. Was mich erschreckt: In der ganzen Hartz-Diskussion spielen Migranten keine Rolle.

Kann man über ein solches Thema zum Austausch zwischen Muslimen und Nichtmuslimen kommen? Haben Sie das versucht?

Fischer: Ja, wir haben eine Hartz-IV-Veranstaltung in türkischer Sprache in einer Moschee gemacht, da sind die türkischen Moscheebesucher gekommen. Eine gemeinsame Veranstaltung gab es nicht. Das liegt auch an den Orten. In die Moschee wäre von den deutschen Arbeitslosen kaum jemand gekommen, auch wenn wir die Veranstaltung auf Deutsch gemacht hätten.

Dantschke: Aber es gibt auch neutrale Orte. Mich stört, dass Muslime in ihrer Identität als Muslime definiert werden, und ihre soziale, wirtschaftliche und politische Identität wird darunter subsumiert. Beim Austausch muss man nicht unbedingt bei der Religion ansetzen, das können auch ganz andere gemeinsame Interessen sein.