berliner szenen Wenn das Arbeitsamt ruft

Willkür des Wartens

Meldetermin bei der Bundesagentur für Arbeit. Herr S. fühlt sich wie im offenen Strafvollzug. Heute muss er in der Sonnenallee 282 vorstellig werden, damit sein Status als Arbeit suchender Mensch in den Amtsakten nicht verfällt. Die Behörde gibt ihm als Akademiker, der noch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, nichts. Sie will im Gegenzug jedoch vor allem eines von ihm: seine kostbare Zeit.

Die anderen, die mit ihm darauf warten, aufgerufen zu werden, scheinen hier schon viel von diesem Gut verloren zu haben. Sie sehen alle sehr schlecht aus. Aus kranken und verkaterten Gesichtern sehen sie Herrn S. misstrauisch an. Denn Herr S. drückt auf keinem Handy herum, sondern liest still in einem Buch mit dem Titel „Brüste kriegen“.

Stunden vergehen. Längst sind alle Leute, die mit Herrn S. eingetroffen sind, abgefertigt. Und auch viele derjenigen, die erst lange nach ihm auftauchten, kommen unerfindlicherweise vor ihm dran. Hier zieht man nämlich keine Wartemarken: Das Arbeitsamt ruft einen auf, wenn es dies für richtig hält. Eine Frau, die das nicht einsieht, schreit die Empfangsdame an: „Ich soll doch bloß meinen Pass vorzeigen. Ich bin nur hier, weil Sie mich dazu zwingen. Wieso komme ich nicht dran wie die anderen?“ – „Weil die verschiedene Anliegen haben“, lautet die rätselhafte Antwort.

Herr S. hat sein Buch ausgelesen. Er muss pinkeln und hat Angst, zum Klo zu gehen, weil er ja genau in dem Moment aufgerufen werden könnte. Da hört er endlich jemand seinen Namen nuscheln. Im Sprechzimmer fragt er seine Sachbearbeiterin: „Könnte ich nicht eine Ich-AG gründen?“ – „Nein. Da Sie von uns keine Bezüge erhalten, haben Sie darauf keinen Anspruch.“ – „Danke“, sagt Herr S. und geht nach Hause. JAN SÜSELBECK