Geschichten von der Oma

Ortstermin Versicherungsberatung: An schlichten Beispielen erklärt ein Finanzdienstleister jungen Akademikern, wie sie am besten an viel Rente kommen: wenn sie auf den Sozialstaat pfeifen

AUS BERLIN MAREKE ADEN

Mandy Kunz will „Hintergrundwissen“ vermitteln, damit ihr Publikum auch versteht, „was die da oben sagen“. „Das sagt einem nämlich sonst keiner“, sagt sie: Die Deutschen werden immer älter, die Renten unsicher. Das sagt einem sonst wirklich niemand. Willkommen bei der Akademikerberatung des Finanzdienstleisters MLP. MLP vermittelt Versicherungen gegen fast jede erdenkliche Unbill vor allem an junge Akademiker zwischen 25 und 30. Leute also, die noch in einer Studentenbutze hausen, aber bald in eine große Wohnung mit Parkblick ziehen und dann auch noch viel Geld für all diese Versicherungen übrig haben und MLP damit fette Provisionen verschaffen. Fünf Akademiker sind heute in Berlin an den Alexanderplatz gekommen.

MLP hatte in der Einladung ein Glas Sekt und gute Tipps für den nächsten Auslandsaufenthalt versprochen. Vielleicht hat sie das angelockt. Am Titel der angekündigten Veranstaltung kann es nicht gelegen haben. „Demografie – ein unbestimmter Rechtsbegriff“. Das klingt langweilig und ist falsch.

Gemeint war „Demografie“, jene Geheimsache über die älter werdende Bevölkerung. Im Übrigen ist zu den Versprechungen zu sagen: Es gibt naturtrüben Apfelsaft, nicht Sekt, und was die guten Tipps betrifft, gibt es Mandy Kunz. Fünf sitzen also im Halbkreis und hören ihr zu. Fünf sind eher wenig. MLP füllt mehrmals in der Woche Seminare in über 40 deutschen Geschäftsstellen zu Themen wie „Die besten Wege zur eigenen Immobilie“. Daran merkt man, dass es die deutsche Intelligenzia nicht leicht hat. Studieren kostet Kraft, politisch aktiv sind nur noch wenige, es sei denn gegen Studiengebühren. Nach ihrem Abschluss ziehen sie nicht mehr in die Welt, um sie zu verändern, sondern zum Finanzberater, um sich zu erkundigen, wie viel sie für die Rente beiseite legen müssen.

Dennoch ist merkwürdig, dass die jungen Akademiker jede platte Worthülse über „die da oben“ über sich ergehen lassen, ohne zu mucken. Rätselhaft auch, warum MLP den potenziellen Großverdienern zutraut, reich zu werden und viel Geld in Versicherungen zu stecken, aber nicht, Zeitung zu lesen oder politische Beteuerungen zu entschlüsseln. So fängt die Beratung dann mit einer Strichmännchenzeichnung von Mandy Kunz an: rechts die Einzahler und links die Empfänger von Rentenbeiträgen. Mit Schwamm und Kreide werden es rechts weniger und links mehr. Es folgt eine Erläuterung: „Meine Oma ist über 80, mein Urgroßvater ist über 90 geworden, ich kann mir gut vorstellen, dass ich auch über 90 werde.“

Überhaupt spielt die Oma von Mandy Kunz eine wichtige Rolle. Sie wird nicht nur methusalem-alt, sie geht auch ständig zum Arzt. Kein Wunder also, dass die Krankenkassen pleite sind. Andererseits ist das wichtigste Gut im Leben eines Menschen die Gesundheit, das weiß Kunz von der Oma und seit einem Unfall auch selbst. Oder ist das wichtigste Gut eventuell doch der Konsum?

„Wozu arbeitet man?“, fragt Mandy Kunz die Absolventen, die jetzt ihren naturtrüben Apfelsaft ausgetrunken haben. Rhetorische Frage: um zu konsumieren. Sie, Mandy, zumindest hat zwei oberste Ziele im Leben: „Konsum und Gesundheit“, in dieser Reihenfolge. Doch beides lässt sich schwer voneinander trennen.

Junge Akademiker sind potenziell zweifache Millionäre, wenn man ihre zukünftigen Monatseinkommen zusammenrechnet. Außer sie werden krank und können nicht mehr arbeiten, dann wird aus den zwei Mille nix. Folglich ist eine Investition in die Gesundheit auch eine in die Arbeitskraft und Voraussetzung für Konsum. Es stimmt: Das sagt einem sonst keiner „da oben“. Nicht so hart.

Was macht man also, wenn man immer älter wird, ohne sich bei MLP versichert zu haben? Man wird arm, schlimmstenfalls verstirbt man. Der Bekannte von Mandy wäre gestorben. Wenn er nicht eine private Krankenversicherung (die übrigens auch über MLP angeboten wird) gehabt hätte. Dadurch bekam er einen frühen Chefarzttermin.

Kurze Pause. Durchatmen. Ein Glas Sekt wäre jetzt gut. Der Apfelsaft steht in weiter Ferne. Und Mandy sinniert immer noch darüber, wie sie ihren Bekannten fast an Darmkrebs verloren hätte. Fünf Jungakademiker schweigen.

Erst nach einer Stunde regt sich leiser Widerstand gegen die Kunz-Theorien. Eine Frau sagt: „In Dänemark funktioniert der Sozialstaat doch auch noch.“ Mandy Kunz sagt: „Du sprichst jetzt den sozialen Aspekt an.“ Sie erklärt den sozialen Aspekt: Für die Armen sorgt in Zukunft nicht mehr der Staat, das übernehmen die Reichen durch Wohltätigkeit.

MLP hat mit solchen Argumenten Erfolg bei Studierten. Die Aktie ist im letzten Jahr von 5 Euro auf fast 17 gestiegen. Im Jahr 2000 stand sie mal kurz bei 150 Euro. Da wollten sich wohl viele Start-up-Unternehmer die Immobilie fürs Alter sichern. Daraus ist nichts geworden. Diese fünf sehen am Ende allerdings skeptisch aus. Sie bekommen aber vom nächsten bis zum überübernächsten Tag Einladungen zu persönlichen Beratergesprächen. Vielleicht klappt’s dann ja noch mit der Provision.