Karibische Rhythmen in Peking

Walzer, Cha-Cha-Cha und Tango haben Maos Kulturrevolution überlebt. Jetzt kommen die Chinesen auf die Salsa. Nach Nordamerika und Europa wird nun China vom Salsafieber gepackt. Ein Besuch in Pekings Tanzklub „Latinos“

von KAREN SCHREITMÜLLER
und ANDREA WURTH

Die Musik ist schon von draußen zu hören, direkt hinter dem Eingang versteht man bereits sein eigenes Wort nicht mehr. Sitzplätze sind rar, aber wer hierher kommt, will sowieso nicht sitzen. Auf der Bühne wirbelt eine achtköpfige Band, die dem Publikum mit Hits von Celia Cruz oder Los Van Van ordentlich einheizt. Das lässt nur notorische Nichttänzer kalt. Mit jedem Song, den die lateinamerikanischen Musiker spielen, wird die Stimmung ausgelassener. Es ist Samstagabend, und wir sind im „Latinos“, Pekings best besuchten Salsaclub.

Mit Bescheidenheit kommt man bekanntlich nicht weit, auch in Peking nicht. „Beijings hottest dancing club“ verspricht die Visitenkarte. Außerdem „Live Music from South America, Top Latin DJs, Dancers and Teachers“. Der Eintritt nimmt sich ebenfalls nicht bescheiden aus: Stattliche 50 Yuan, umgerechnet ca. 5 Euro, kostet das Eintauchen ins lateinamerikanische Lebensgefühl, ein Freigetränk inklusive. Viel Geld für einen chinesischen Normalverdiener, dessen Monatsverdienst bei ca. 2.000 bis 3.000 Yuan liegt. Doch wer hier vor allem wohlhabende Ausländer erwartet, liegt falsch: Etwa ein Drittel der Gäste sind Ausländer, die große Mehrheit Chinesen.

Dass die Globalisierung in China nicht bei Kentucky Fried Chicken und Mercedes Benz aufhört, sondern auch andere Töne ins Reich der Mitte dringen, liegt nicht zuletzt an Leuten wie Alejandro, der zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Der ehemalige Tänzer besuchte vor ein paar Jahren Verwandte in Peking – und blieb hängen.

Eigentlich wollte Alejandro studieren, doch dann passierte etwas, was er nicht im Traum zu wünschen gewagt hätte: Die Chinesen entdeckten die Salsa. „Die erste Salsaparty in Bejing“, erinnert er sich, „gab es 1999.“ Wenig später schon eröffnete die erste Salsa-Bar am Arbeiterstadion, und Alejandro weihte als Tanzlehrer junge Chinesen in den Hüftschwung ein. Heute ist er künstlerischer Direktor im „Latinos“ und dort so ziemlich jeden Abend anzutreffen. Viele der Gäste begrüßt er persönlich, und die eine oder andere Besucherin entführt er schon mal auf die Tanzfläche.

Er war es auch, der die achtköpfige Band in seiner Heimat entdeckte und für den Club engagierte. Sechs Abende die Woche spielen sie im „Latinos“, das allein ist für viele Gäste schon Grund genug, den Club zu besuchen. Sogar aus dem tausend Kilometer entfernten Shanghai pilgern begeisterte Salseros übers Wochenende nach Peking. Wer hätte gedacht, dass die Metropole am Huangpufluss, die täglich ein paar Hochhausetagen höher wächst und für ihr Nachtleben berüchtigt ist, sich vom staubtrockenen bürokratielastigen Peking Nachhilfestunden in Sachen Tanzen geben lassen muss.

Denn im Latinos wird nicht nur Salsa getanzt, man kann es hier auch erlernen. Die Tanzlehrer sind allesamt Chinesen, so wie Jin Jin, die vor einigen Jahren in Schweden ihre Begeisterung für die Salsa entdeckt hatte. In Stockholm, so erzählt sie, habe sie einen ganzen Winter lang bei ihrer Tante und deren Freund gewohnt. „Ein kalter Ort für einen so heißen Tanz“, meint sie, aber danach hat es sie nicht mehr losgelassen. Jetzt gibt sie jede Woche Unterricht im Latinos.

Jin Jin ist zufrieden mit den Fortschritten ihrer Schüler. „Die meisten Europäer wissen das vielleicht nicht, aber Tanzen ist in China ziemlich verbreitet. Schauen Sie doch mal morgens in den Beihai-Park.“ Und tatsächlich: Getanzt wird schon frühmorgens und erst recht abends in Parks, auf Plätzen und Fußgängerzonen und sogar vor dem Eingang des Kaiserpalasts von Peking. Ausgerüstet mit Kassettenrekorder oder CD-Player schwingt hier die ältere Generation das Tanzbein. Ob Walzer, Cha-Cha-Cha oder Fox, viele Paare beherrschen die ganze Palette westlicher Standardtänze. Anders als in der Gesamtbevölkerung sind die Frauen hier in der Überzahl, so dass die Männer freie Wahl haben. Am Rande der provisorischen Tanzfläche wird geplaudert, werden neue Schrittkombinationen ausprobiert. Ein kostenloses Vergnügen. Spätestens gegen elf sind die Lautsprecher abgeschaltet.

Im Latinos geht es um diese Zeit erst richtig los. Spannung und Erotik, tänzerische Improvisation und Leidenschaft sind bei den heute 20- bis 30- Jährigen angesagt. Dass die Salsa bei jungen Chinesen ebenso gut ankommt wie schon seit Jahren in anderen Teilen der Welt, verwundert nicht wirklich. Chinas Jugend ist auf dem Weg, sich von den Moralvorstellungen der älteren Generation zu befreien und neue zu definieren. Sie ist in einem China des Wandels aufgewachsen. HipHop-Konzerte und Salsastunden gehören neuerdings dazu. Ein überdurchschnittliches Einkommen und genügend Freizeit ebenfalls. Noch ist die Zahl derer, die sich das leisten können, begrenzt. Doch sie wächst, und neue Salsabars stecken in den Startlöchern.

„Latinos“, Chaoyang Park South Gate (Bar Street), Tel. 65 07 98 98, Di.–So. ab 22 Uhr, www.latinosclubchina.com