Elegant wohnen am Strom

Ein Hochhaus ist ein eigenes Universum, die Bewohner eine Gemeinschaft einander Unbekannter. Doch was lange als Manko des Hochhauses betrachtet wurde, kann sich auch als Vorteil erweisen. Denn Anonymität muss nicht gleich Ignoranz sein

„Man ist so frei, keiner achtet auf einen, das hat sowohl Vor- als auch Nachteile

VON MICHAEL KASISKE

„Es ist hier eigentlich wie ein Dorf, in das man zugezogen ist“, antwortete ein Kollege, als ich mich nach seinem Eindruck vom Wohnen im Hochhaus am Platz der Vereinten Nationen erkundigte. Meine Frage erschien dem Architekten zunächst abwegig – eine Wohnung ist eine Wohnung und deren Grundriss, Ausrichtung und Materialität prägen die Atmosphäre meistens stärker als das strukturelle Umfeld.

Doch der im städtischen Kontext genau definierte Wohnort wird auch als ein Teil der persönlichen Identität wertgeschätzt. Und tatsächlich nehmen sich die Bewohner des genannten Hochhauses außerhalb ihrer eigenen vier Wände als territorial begrenzte Gemeinschaft wahr. Das Anonyme, für das die Wohnform Hochhaus lange herhalten musste, ist nicht gleichbedeutend mit Ignoranz. „Inzwischen waren die Hausbewohner vernommen worden, von denen der größere Teil wenig oder gar nichts über Katharina Blum aussagen konnte“, heißt es in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, deren Protagonistin der Autor Heinrich Böll in einem „modernen Wohnblock“ wohnen ließ. Und weiter: „Man habe sie gelegentlich im Aufzug getroffen, sich gegrüßt, wisse, dass ihr der rote Volkswagen gehöre, man habe sie für eine Chefsekretärin gehalten, andere für eine Abteilungsleiterin in einem Warenhaus; sie sei immer adrett, freundlich, wenn auch kühl gewesen.“

Eine Gemeinschaft einander Unbekannter? Was lange als Manko des Hochhauses betrachtet wurde, kann sich auch als Vorteil erweisen. Schließlich möchte man nicht mit jedem Nachbarn per Du sein und seine Freizeit der Hausgemeinschaft widmen. Unerlässlich ist jedoch in diesem Haustyp das stillschweigende Einhalten der Hausregeln. Besonders die von allen benutzten Verkehrsflächen können schnell zum Streitpunkt werden. Jeden Tag in einem nach Urin stinkenden Aufzug zu fahren und durch einen von Müll und Graffiti verschmutzten Eingang zu gehen, oder von grölenden Nachbarn bis in die eigenen vier Wände hinein akustisch verfolgt zu werden, wird in der Regel nur begrenzte Zeit toleriert.

In der Marzahner Kienbergstraße etwa schwoll zunächst beinahe alltäglicher Vandalismus und Ruhestörungen von drei oder vier Mietparteien eines Hochhauses in atemberaubender Geschwindigkeit zu einem schier unlösbaren Problem an. Der Ärger ließ zahlreiche Mieter fluchtartig das Haus verlassen, und bald wurde gar die Frage aufgeworfen, ob das nur noch teilweise bewohnte Gebäude im Zuge des Rückbaus nicht aufgegeben werden sollte.

Der hochgeschossige Bau in Marzahn ist ein Paradebeispiel für den schwierigen Organismus namens Hochhaus. Häufig sind hier die öffentlichen Kommunikationsorte auf den Aufzug beschränkt. Wenn dann etwa aufgrund unbekümmerter Belegungspolitik soziale Verwerfungen auftreten, muss schnell reagiert werden, bevor die Situation zu einer kaum mehr handhabbaren Krise wie in der Kienbergstraße kulminiert. Eine Selbstregulierung kommt aufgrund der mangelnden Verbindlichkeiten untereinander kaum zustande, allenfalls hätte eine Bestätigung des Problems und die Anleitung zu seiner Lösung von außen kommen können.

„Man ist so frei, keiner achtet auf einen – crever la gueule ouverte – ein französisches Sprichwort, was so viel heißt wie ‚bei offenem Mund verrecken‘, das hat hier sowohl Vor- als auch Nachteile. Aber ich möchte das so“, sagt zum Beispiel die Bewohnerin einer riesigen Hochhausscheibe am Pariser Bahnhof Montparnasse in einem Interview. „Wir kennen hier viele Leute vom Sehen, wir wissen, dass sie ebenfalls hier wohnen, aber die Namen, die kenne ich nicht. Mit einigen der anderen Mieter sind wir befreundet, das gemeinsame Leben schafft trotz aller Anonymität eine gewisse Verbundenheit.“ Die Bewohner des Hauses am Bahnhof Montparnasse bezeichnen sich selbst als „Mouchottiens“, benannt nach der Adresse Rue du Commandant R. Mouchotte.

Wenn es auch noch nicht begrifflich so deutlich gefasst ist, erfreut sich das Wohnen in Berliner Hochhäusern zumindest im Innenstadtbereich inzwischen ebenfalls großer Beliebtheit. Gerade die Häuser in der Leipziger Straße oder rund um den Alexanderplatz sind begehrte Wohndomizile. Ähnlich werden sich im alten Westen vermutlich das „NKZ – Neues Kreuzberger Zentrum“ am Kottbusser Tor oder der „Sozialpalast“ in der Pallasstraße entwickeln. Auch sie liegen innerhalb dichter, verkehrsgünstig gelegener Quartiere und besitzen – wenngleich auf konventionellem Niveau – eine komfortable Ausstattung.

„Das gemeinsame Leben schafft trotz Anonymität eine Verbundenheit“

Die zentrale Lage ist ein Pfund, mit dem die großen Stadtrandsiedlungen wie das Märkische Viertel in Reinickendorf und Britz-Buckow-Rudow – die so genannte „Gropiusstadt“ –, Marzahn und Hohenschönhausen nicht wuchern können. Dort geht auch der Charakter des Solitärs, den ein Hochhaus in einer Stadt mit gleichmäßiger Haushöhe wie Berlin zweifelsohne hat, in der Gleichförmigkeit der Nachbarbebauung unter.

Dennoch sollte in diesen Quartieren die Arrondierung im Zuge des Stadtumbaus nicht nur das Ziel idyllischer Vorstädte im Auge haben, sondern ausgewählte Hochhäuser als – hier trifft der verfemte stadtplanerische Begriff aus den 1960er Jahren – Stadtdominanten bewahrt bleiben. Denn Wohnen im Hochhaus heißt inzwischen Wohnen im Bestand. Neue Wohnhochhäuser werden nicht mehr gebaut, da die Kosten angesichts der Anforderungen an den Brandschutz, wie Fluchtbalkone oder geschützte Rettungswege, unwirtschaftlich sind.

Das Hochhaus als Wohnform feiert eine Renaissance. Wie etwa Versicherungen oder Banken seit langem das Bürohochhaus als Zeichen wirtschaftlicher Potenz stilisieren, vereinnahmen Mieter oder Wohnungseigentümer das einstige Zeichen von Modernität als Teil ihres Lebens, auch Wohnungen in abseits gelegenen Hochhäusern wie das Haus von Le Corbusier an der Flatowallee sind wieder begehrt, obschon sie – entgegen des ursprünglichen Konzepts des schweizerischen Architekten – kaum die räumlichen Qualitäten einer klassischen Maisonettewohnung aufweisen. Sprachlicher Verfremdungen wie bei Heinrich Böll bedarf es jedenfalls nicht mehr: Katharina Blums Eigentumswohnung in einer Satellitenstadt war nämlich unter dem Motto „Elegant wohnen am Strom“ angezeigt worden.