Der Aufstand der Reichen

In der Gefolgschaft Juschtschenkos hat sich so mancher in den 90er Jahren einen Staatsbetrieb unter den Nagel gerissen

AUS KIEW HEIKE HOLDINGHAUSEN

Sperrholztische mit Telefonen aus den 70ern stehen auf abgeschabten Teppichböden, Anzugträger mit orangefarbenen Krawatten und piepsenden Handys eilen durch die Korridore. Das markante Bürogebäude direkt am Kiewer Unabhängigkeitsplatz ist in diesen Tagen das provisorische Hauptquartier der ukrainischen Protestbewegung. Hier wird die Zeltstadt auf dem Kreschtschatik organisiert, das Programm auf der Bühne des Unabhängigkeitsplatzes gestaltet – und auch über die Zeit nach der Revolution nachgedacht.

Das Gremium dazu ist das „Komitee zur nationalen Rettung“, das der Präsidentschaftskandidat Wiktor Juschtschenko in dieser Woche gegründet hat und das den einen als reine „Schowveranstaltung“, anderen hingegen als „Schattenkabinett“ gilt. Seine 18 Mitglieder sind sämtlich Parlamentsabgeordnete, etabliert sozusagen. Sie begleiten Juschtschenko schon seit langem, zum Teil sind sie mit ihren Parteien Mitglied in dem von ihm angeführten Fraktionsblock Nascha Ukraina (deutsch: Unsere Ukraine).

Geschmiedet hat Juschtschenko diesen Block aus verschiedensten Parteien, etwa der sozialpolitisch eher links stehenden Partei Solidarnist von Petro Poroschenko, der marktliberalen Partei Reformen und Ordnung (die sich inzwischen frecherweise zu Nascha Ukraine umbenannt hat) und der christlich-konservativen Partei Ruch, die aus der legendären Oppositionsbewegung aus Sowjetzeiten hervorgegangen ist. Ihre Verbindung untereinander besteht derzeit vor allem in dem Bestreben, den herrschenden Präsidenten abzulösen.

„Die politischen Parteien sind in der Bevölkerung kaum verankert“, sagt Helmut Kurth, Leiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, „sie dienen nur dazu, die Interessen ihrer Vorsitzenden durchzusetzen.“

Die Konfliktlinien verlaufen in der Ukraine nicht zwischen verschiedenen Ideologien, erklärt auch der Politologe Stanislaw Liachinski, sondern zwischen den Interessen der verschiedenen Oligarchen – den unermesslich reichen Unternehmern, die sich Anfang der 90er Jahre die riesigen Staatsbetriebe unter den Nagel gerissen und dann begriffen haben, dass es nützlich ist, nicht nur wirtschaftlichen Einfluss zu haben, sondern auch politische Macht. Aus dem Parlament hätten sie eine Art Interessenvertretung für ihre eigenen Angelegenheiten gemacht, meint Liachinski.

Der dicke Piotr Poroschenko zum Beispiel ist seit Jahren Abgeordneter und war schon Mitglied in verschiedensten Parteien. Er tritt gerne in Strickwesten auf und wird „Schokoladenkönig“ genannt, weil er eine Fabrik für Süßigkeiten besitzt, aber nicht nur das. Er gehört zu den reichsten Männern der Ukraine und regiert etwa 50 Unternehmen. Seine politischen Ideen sind relativ unbekannt, sein politisches Ziel hingegen offensichtlich, meint ein guter Kenner der Szene. „Er will Juschtschenko ins Präsidentenamt bringen.“

Poroschenko habe sich vor etwa zwei Jahren auf die Seite Juschtschenkos geschlagen und seitdem „ziemlich gelitten“. Unternehmer, die in der Ukraine gegen den Präsidenten opponieren, bekommen es mit der Steuerbehörde zu tun, seinem schlagkräftigen Unterdrückungsapparat.

Der Fernsehsender Poroschenkos, der Fünfte Kanal, den Zuschauer wegen seiner relativ ausgewogenen Berichterstattung schätzen, stand vor den Wahlen kurz vor der Schließung – wegen Steuervergehen. In diesen Tagen sendet er neben Diskussionsrunden und Nachrichten hauptsächlich revolutionäre Videoclips. Bilder von Demonstranten, unterlegt mit Rock oder HipHop, geschnitten wie für MTV. Auf mehreren Leinwänden können die Kiewer Demonstranten sich dort beim Feiern zusehen.

Nicht Mitglied in der Fraktion von Nascha Ukraina, aber im Rettungskomite, ist die Jeanne d’Arc der orangenen Revolution, Julia Timoschenko. Wenn sie auf die Bühne auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz tritt, jubeln die Demonstranten, die sie liebevoll beim Vornamen nennen.

Während Juschtschenko seine Rolle als Volkstribun manchmal etwas unheimlich scheint und er beim Parolenschreien vor den Massen oft hölzern wirkt, macht das „Julia“ sichtlich Spaß. Sie ist die einzige Frau, die es in der Ukraine zur Oligarchin geschafft hat. In der Energiebranche ist sie reich geworden. Dem Kiewer Herrenclub ist sie unheimlich, sie sei „radikal“, eine „Nacht der langen Messer“ wird ihr zugetraut, sollte sie die Mittel dazu bekommen. Ein paar Rechnungen mit dem Präsidenten hat sie offen – nachdem Juschtschenko vom Präsidenten als Ministerpräsident abserviert worden war, landete Julia Timoschenko in Untersuchungshaft. Der Grund: Steuervergehen.

Dass diese Behörde ein so willfähriges Instrument der Präsidialadministration ist, liegt in der politischen Verfassung der Ukraine begründet. Der Präsident ist praktisch allmächtig, er ernennt und entlässt die Regierung, und das Parlament ist gegen ihn nicht handlungsfähig, weil seine Beschlüsse ohne seine Unterschrift keine Gültigkeit besitzen.

Als der kalkulierbarste Politiker in der Riege der Opposition um Juschtschenko gilt westlichen Beobachtern der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Oleksandr Moros. Er vertrete eine klare ideologische Position, in deutschen Begriffen die sozialdemokratische. Moros, der in der ersten Runde noch selbst um das Präsidentenamt kandidiert hatte, hat sich inzwischen fest hinter Juschtschenko gestellt, nicht nur ideologisch, auch buchstäblich.

Wenn Juschtschenko auf der Bühne des Unabhängigkeitsplatzes spricht, steht Moros meist daneben. Seit langem fordert er eine Verfassungsreform als ersten Schritt eines neuen Präsidenten.

Die brauche das Land allerdings dringend, sagt Helmut Kurth, um die Machtbalance zwischen Regierung und Parlament neu auszurichten. Mit „Checks und Balances“ sei in der Ukraine sowieso etwas anderes gemeint, als im Westen, spotten politische Köpfe: Die Balance zwischen den unterschiedlichen Oligarchenclans. Immer, wenn etwa der Clan aus Dnjepropetrowsk zu stark geworden sei, habe Präsident Kutschma eben die Donetzker gefördert. Und gegen sie die Kiewer ausgespielt.

Ob Juschtschenko und sein Team dieses Denken hinter sich lassen können, müsse er erst noch zeigen und hänge auch davon ab, wer sich in seinem Umfeld letztlich durchsetzen werde. „Wer morgen noch in den Kategorien der Oligarchen denkt“, sagt der Politologe Liachinski, „der hat keine Chance.“ Die Hoffnungen und Erwartungen auf Demokratie und Rechtsstaat der Ukrainer seien jetzt einfach zu groß.