Patriotische Mythen um ein Schlachtfeld

Ein Archäologe der Uni Münster bezweifelt, dass die Hermannsschlacht in Kalkriese bei Osnabrück stattgefunden hat. Münzfunde und die Beschaffenheit des Bodens zeugen von einem anderen Ort. Sogar am Mythos Hermann, dem Befreier der Germanen, kratzt der Wissenschaftler

MÜNSTER taz ■ „Als die Römer frech geworden, Simserim simsimsimsim, zogen sie nach Deutschlands Norden“, heißt es im Volkslied zu Ehren der Schlacht im Teutoburger Wald. Im Teutoburger Wald? Doch eher in Kalkriese bei Osnabrück! Vielleicht auch nicht, behauptet jetzt der Münsteraner Archäologe Stephan Berke.

Es kam einer Sensation gleich, als 1987 bei Kalkriese erste Hinweise auf militärische Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen entdeckt wurden – 162 römische Münzen und drei Wurfgeschosse aus Blei. Die Suche nach dem mystischen Ort, an dem die tapferen Cherusker unter Führung ihres Feldherrn Arminius oder Hermann den römischen Besatzern eine so vernichtende Schlappe zugefügt hatten, dass diese sich daraufhin aus allen Gebieten östlich des Rheins zurückzogen, schien endlich gefunden. Ein schwerer Schlag für Detmold, wo 1875 in nationalistischem Überschwang das Hermannsdenkmal zur Erinnerung an die Schlacht im Teutoburger Wald errichtet worden war. Doch die Zweifel an der korrekten Bestimmung Kalkriese sind nie verstummt – zu Recht, wie Berke, Lehrbeauftragter am Archäologischen Seminar und Museum der Universität Münster, meint. „Es ist für die Wissenschaft von eher untergeordnetem Interesse, wo 9 n.Chr. die Varusschlacht stattgefunden hat. Wichtig ist nur, dass es sie gegeben hat“, sagt der Experte für Provinzialrömische Archäologie. Die römischen Lager und Siedlungen aus jener Zeit, die in Westfalen und Niedersachsen gefunden wurden, könnten wesentlich mehr über die Kulturgeschichte des Landes erzählen als von patriotischen Mythen umrankte Schlachtfelder.

Trotzdem verfolgt Berke die Diskussion aufmerksam, denn die eindeutige Zuschreibung Kalkrieses als Ort der Varusschlacht sei so wissenschaftlich nicht haltbar. Sicher, Kalkriese sei das bisher einzige gefundene römische Schlachtfeld aus dieser Zeit, deshalb sei die Wahrscheinlichkeit groß. Die Beweiskette aber ist lückenhaft. „Die Münzfunde werden zur Bestätigung der Hypothese genau auf das Jahr 9 n.Chr. datiert“, so Berke, was er für anfechtbar hält. Deutsche Euro-Münzen trügen z.B. das Ausgabejahr, niederländische das Jahr ihrer Prägung. So kann es passieren, dass man eine niederländische Euro-Münze aus dem Jahr 2001 in die Hand bekommt, obwohl die neue Währung erst ein ganzes Jahr später in Umlauf kam. „Wir haben bei allen Münzfunden eine zeitliche Unschärfe, die man nicht wegdiskutieren kann“, so Berke. Gerade in der Zeit von 2 bis 14 n.Chr., also im fraglichen Zeitraum, seien kaum Münzen geprägt worden, die sich genauer einordnen ließen. Die einzige Methode, Funde auf das Jahr genau zu bestimmen, sei die Dendrochronologie. Mithilfe der Jahresringe in Holzfunden und Vergleichsstücken könne man die Jahre einfach auszählen – doch in Kalkriese seien trotz weiterer Ausgrabungen, die zahlreiche militärische Ausrüstungsgegenstände zu Tage brachten, keine Holzfunde gemacht worden.

Noch ein weiterer Umstand lässt Berke stutzig werden. Der römische Historiker Cassius Dio hat beschrieben, dass Varus im Spätsommer des Jahres neun nach Christus irgendwo an der Weser zwischen Höxter und Minden sein Sommerlager aufschlug. Der genaue Standort wurde nie gefunden. Von dort aus marschierte er los in die entscheidende Schlacht mit den Cheruskern. Tacitus, die zweite zeitgenössische Quelle, wiederum beschreibt den Weg des Germanicus, der sechs Jahre nach der verheerenden Schlacht mit Überlebenden das Schlachtfeld aufsuchte. Der designierte römische Kaiser landete an der Emsmündung, marschierte mit seinen Truppen südlich bis zu den äußersten Grenzen der Brukterer – „dort wo Ems und Lippe parallel laufen“ – ein Gebiet, ungefähr zwischen Münster, Detmold und Paderborn gelegen. Von dort aus sei es bis zum Schlachtfeld nicht weit gewesen. Warum, so fragt sich Berke, habe Germanicus einen Umweg so weit nach Süden machen sollen, wenn er doch genau wusste, wo das Schlachtfeld zu finden sei? Und noch ein Punkt lässt zumindest Zweifel an Kalkriese aufkommen: Das Gebiet, in dem die Schlacht stattgefunden hat, wird von Cassius Dio und Tacitus als öde und leer beschrieben. In Kalkriese aber wurden Reste einer germanischen Besiedlung gefunden. „Diese Funde können wir noch weniger zeitlich einordnen als die römischen. Stammt die Siedlung aus dem Jahr 50 v.Chr. und wurde dann aufgegeben, könnte Kalkriese weiter als Ort der Varusschlacht gelten. Stammt sie aus der Zeitenwende, wäre Kalkriese damit aus dem Rennen“, erläutert Berke. Und sogar am Mythos Hermann, dem Befreier der Germanen, kratzt der Archäologe. Unstrittig sei unter Wissenschaftlern, dass bei der Varusschlacht zwar ein wichtiger, aber nicht der entscheidende Sieg errungen wurde. Insgesamt habe der Kampf zwischen Römern und Germanen fast 30 Jahre gedauert. Erst gegen Ende des Jahres 16 gab Kaiser Tiberius das Gebiet östlich des Rheines auf. Die Varusschlacht war eine Schlacht unter vielen, doch die Faszination bleibt. HOLGER ELFES