In der Gruppe ins Jenseits

Immer mehr Jugendliche in Japan bringen sich kollektiv um. Geködert werden sie mit Werbung im Internet

Während es auf einer Homepage lapidar heißt: „Willst du frei sein von allen Sorgen? Ich bring dich dorthin“, werden anderswo Tötungsmethoden benutzerfreundlich nach den Kriterien „Schmerz“, „Wahrscheinlichkeit auf Erfolg“ und „Umtriebe für die Hinterbliebenen“ bewertet. Wer sich vor die U-Bahn werfe, bürde seiner Familie Reinigungskosten von bis zu 55.000 Euro auf, gibt einer zu bedenken. Einer Partnervermittlungsagentur ähnlich präsentieren sich Lebensmüde für ihre letzte Verabredung.

Mit einem zynischen Resultat: Erst dieses Wochenende fand die Polizei in einem Tokioter Appartement die Leichen von vier Jugendlichen. Gleichentags wurden in einer ländlichen Provinz zwei Frauen und ein Mann in einem Auto gefunden. Auch hier die Vermutung: kollektive Selbsttötung. Bereits im Oktober brachten sich neun Jugendliche um, bisher die größte Gruppenselbsttötung.

Einzelne reisten hunderte von Kilometern, um sich mit Gleichgesinnten zu treffen. In mehreren Fällen parkten die Jugendlichen ihr Auto an einem abgelegenen Ort, zündeten bei geschlossenen Fenstern einen Kohleofen an und starben an Rauchvergiftungen. Zuvor hatten sie ein Handy programmiert, das nach einigen Stunden den Hinterbliebenen eine Kurznachricht schickt.

Japan hat traditionell eine der höchsten Selbstmordraten weltweit. Dramatisch angestiegen sind die Werte jedoch bei den unter 19-Jährigen (um 22 Prozent), bei Grundschülern sogar um 60 Prozent. In den 90er-Jahren wurden die steigenden Zahlen mit dem Bestseller „Das umfassende Selbstmordmanual“ in Verbindung gebracht. Über die Ursachen der Gruppenselbsttötungen sind sich Experten jedoch nicht einig. Einige Psychologen beobachten einen Nachahmereffekt: „Bringen sich mehr Erwachsene um, steigen auch die Selbsttötungen der Jungen.“ Der Tokioter Psychiater Harufusa Higano hingegen ist der Ansicht, dass sich Jugendliche auch „ohne spezifischen Grund“ umbringen. Auf jeden Fall handle es sich bei ihnen nicht um schwer Depressive. „Die bringen sich alleine um.“

Im Oktober wurde die Internetseite einer Frau gesperrt, die offenbar neun todeswillige Personen zusammenbrachte. Dennoch sind die Behörden zurückhaltend mit Internet-Razzien. Gegner von staatlichen Eingriffen mahnen das Recht auf freie Meinungsäußerung an und behaupten, die Endzeit-Foren hätten auch eine präventive Funktion. Menschen in Not diskutierten in der virtuellen Welt ihre Probleme, das halte sie womöglich vom Selbstmord ab.

Nicht nur Depression und Arbeitslosigkeit treiben in Japan in den Tod, sondern auch Traditionen, die Selbsttötung verherrlichen. Samurai, die sich für ihren Feldherrn umbrachten, galten als Helden. Psychologen befürchten nun, der makabre Selbsttötungsrekord vom Oktober mit neun Toten könnte einen neuen Wettlauf auslösen.

MARCO KAUFFMANN