Entspannt im Wortstrom

Die Verführung des Autors ist die Verführung des Vorlesers: Thomas Bernhards Freundschaftsbuch „Wittgensteins Neffe“, in einem freundlichen und milden Ton vorgelesen von Thomas Holtzmann

VON MARION LÜHE

Als „manipulative Leseführung“ bezeichnet Andreas Meier die Technik Thomas Bernhards, die erst gar keinen Zweifel an der Richtigkeit einer Aussage aufkommen lässt. In seiner lesenswerten, jüngst erschienenen Studie über „Die Verführung“ von Bernhards Prosa (Wallstein Verlag) übt Meier, selbst Schriftsteller und durchaus gelehriger Schüler des alten Meisters, radikale Kritik an dessen Gesamtwerk. Bis in die Wortwahl und Satzstruktur hinein führt Meier vor, wie Bernhards Texte funktionieren, wie sie den Leser einwickeln und ihn Bedeutung stiften lassen, wo keine Bedeutung ist. Minutiös deckt er Widersprüche in der biografischen Konstruktion des Dichters auf. Die Lungenkrankheit etwa, die Bernhards Erzählerfiguren nur knapp überleben, entlarvt Meier als Teil einer Selbstinszenierung des Autors, der im öffentlichen Bewusstsein bis heute als großer Wahrheitsfanatiker gilt. Krankheit und Todesnähe werden bei Bernhard so zur Grundvoraussetzung für das eigene dichterische Schaffen stilisiert, das dadurch den Anschein einer existenziellen Notwendigkeit erhält.

Auch in „Wittgensteins Neffe“, das zu den späten autobiografischen Büchern Bernhards zählt, bildet die Krankheit den Ausgangspunkt des Erzählens. Während der Erzähler im Lungensanatorium mit dem Tod kämpft und ihn schließlich heldenhaft besiegt, ist nur zweihundert Meter weiter sein Freund Paul Wittgenstein in der Irrenanstalt „Am Steinhof“ stationiert. Diese Koinzidenz nimmt der Schriftsteller zum Anlass, über seine Freundschaft zu dem Neffen des Philosophen Ludwig Wittgenstein nachzudenken und in endlosen parallelen Satzschleifen ihrer beider Krankheiten als Reaktion auf eine unerträgliche Umwelt zu beschreiben.

Als das menschenfreundlichste, zärtlichste Buch Thomas Bernhards ist „Wittgensteins Neffe“ einmal bezeichnet worden. Liebevoll, nicht ohne Pathos porträtiert er darin seinen „unglücklichen Geistespartner“. In die traurig-komischen Erinnerungen an den einsam und verarmt gestorbenen Freund mischen sich freilich immer wieder Hassattacken auf die kunst- und geistfeindliche Welt. In immer neuen Abschweifungen lässt er seiner Empörung freien Lauf: über die Ärzteschaft, über die Rücksichtslosigkeit der Gesunden und die Entmündigung der Kranken, über Literatenkaffeehäuser und das Wiener Burgtheater, über erniedrigende Preisverleihungen und die Unzumutbarkeiten des Landlebens, über die deutschen Zeitungen, „die im Großen und Ganzen nur gemeine Mistblätter sind“, und die österreichischen Zeitungen, „tagtäglich millionenfach erscheinende unbrauchbare Klosettpapiere“.

Wer nun in der von Thomas Holtzmann vorgelesenen Fassung des Buchs eine Stimme erwartet, die sich vor Wut und Ärger und Hass überschlägt, wird erstaunt sein über den freundlichen, ja, fast milden, niemals lauten oder gar aggressiven Ton, in dem der Münchner Theaterschauspieler den mäandernden Monolog Bernhards wiedergibt. Geschmeidig passt er sich dem Tempo der Sätze an, lässt sich von den Wortströmen treiben, setzt nur hier und da Akzente, wodurch die Musikalität und das kompositorische Prinzip der Bernhard’schen Prosa umso klarer durchscheinen.

Wenn Holtzmann Bernhards harte, apodiktische Urteile über Gott und Österreich mit ruhigem Atem, manchmal fast im Plauderton vorträgt und Aufregung allenfalls durch ein leises Beben in der Stimme andeutet, so bleibt dennoch kein Zweifel, dass Widerspruch nicht gestattet ist. Ist das „manipulative Hörführung“? So lassen wir uns jedenfalls gerne manipulieren.

Thomas Bernhard: „Wittgensteins Neffe“. Gelesen von Thomas Holtzmann. Hörverlag, München 2004. 4 CDs, ca. 236 Minuten, 27,95 €