Genießen können

Sherry Vine geht: weg aus der Stadt, in die sie die Liebe rief, zurück nach New York. Von dort aus gesehen gleicht Berlin Sodom und Gomorrha

INTERVIEW ULF LIPPITZ

taz: Sherry, schildern Sie uns Ihren ersten Eindruck von Berlin!

Sherry Vine: Das erste Mal kam ich zur Berlinale für den Film „Scream, Teen, Scream“ 1997. Ich spürte sofort, das ist der erste Ort außerhalb New Yorks, wo ich mir vorstellen könnte zu leben.

Warum?

Es war, als hätte mich die Stadt gerufen. Außerdem ähnelt Berlin New York sehr: das pulsierende Nachtleben, die schiere Größe, die Ballung von Künstlern, die vielfältige schwule Szene.

Wie verbrachten Sie die ersten Wochen in Berlin?

Ich kam am 8. September 2001 mit zwei Koffern in Berlin an. Die ersten zwei Wochen waren also überhaupt nicht komisch. Ich saß ständig vor dem Fernseher, sah mir CNN an und versuchte zu verstehen, was am 11. September vorgefallen war.

Wollten Sie zurück?

Nein, es hört sich vielleicht schlimm an, aber ich war dankbar, dass ich nicht in New York war.

Wie war der erste Auftritt?

Hören Sie auf! Das war zwei Wochen später. Viele Besucher waren entrüstet, dass ich auftrete. Sie fragten: Wie kannst du das jetzt tun? Ganz New York arbeitete zu dem Zeitpunkt wieder. Da musste mir das in Berlin auch gestattet sein.

Fanden Sie die Berliner unfreundlich?

Amerikaner halten Deutsche für sehr kalt. Aber wenn ich in den Zeitungsladen gehe oder ins Café Steffens bei mir um die Ecke, lächeln mich die Menschen immer freundlich an. Deutsche vertrauen dir nicht sofort, aber hast du einmal ihr Vertrauen gewonnen, dann für eine lange Zeit.

Ist das so anders in den USA?

Nach der Show kommen in den USA Leute zu dir und sagen, wie toll alles war. In Berlin läuft das genau anders. Sie sagen: Oh Gott, was hast du denn für ein fürchterliches Lied gesungen? Aber stellen Sie sich vor, derselbe sagt mir Wochen später, dass es jetzt gut war, dann kann ich dem Urteil glauben.

Sie haben auch die Clubnacht „Squeeze Box“ im Big Eden eröffnet. Wie kam es dazu?

Gloria Viagra und ich sprachen davon, seit ich hier ankam. Wir fanden zuerst keinen geeigneten Ort. Als wir ins Big Eden hineingingen, waren wir sprachlos. Sehen Sie, das ist der große Unterschied zwischen New York und Berlin. Wenn Sie in so einem Club, mit dem Ruf einer Schulklassen-Disko, eine schwullesbische Rocknacht eröffnen, wäre das ein Riesenerfolg. Jeder würde dabei sein wollen.

Und in Berlin nicht?

Nein. So viele Leute haben uns gesagt: Das ist zu weit weg. Berliner, kriegt euren Arsch in die U-Bahn! Auf der letzten Party im Oktober kamen 800 Leute und erzählten uns später, das wäre die beste Party der Stadt. Tja, zu spät.

Was machen Berliner falsch?

Berliner hängen in Gruppen ab – und sie wollen genau vorher wissen, was sie erwartet. Sie wollen nichts Neues. Alle großen schwulen Partys laufen zum Beispiel seit Jahren. Das ist reine Routine. In New York gibt es mehr Aufregung, wenn mal ein neuer Club aufmacht. Hier nicht.

Redet man mit schwulen New Yorkern über Berlin, schwärmen Sie oft nur vom Sex.

Stimmt. Das ist extrem hier. Alle meine Freunde, die mich besucht haben, kamen nur deswegen. Sie hätten tagsüber ausgehen können, aber nein, sie verließen nie das Hotel, bevor die Sonne unterging, und kehrten um acht Uhr morgens zurück.

Wird Berlin eine Art schwules Bangkok?

Es hat diesen Ruf schon. Nicht nur für Menschen aus den Staaten – überall reden Schwule nur über den dreckigen, unanständigen Sex in Berlin. Sodom und Gomorrha!

Zum Abschied: Was hat Ihnen Berlin gegeben?

Es klingt nach einem Klischee, aber in Berlin habe ich gelernt, das Leben zu genießen. In New York rennt man, Gespräche finden im Laufen statt.

Die Stadt holt Sie runter?

Absolut. Ich habe akzeptiert, dass alles geregelt werden kann, aber es nicht in derselben Minute sein muss. Das kannte ich vorher nicht.

Welche Orte bleiben Ihnen in Erinnerung?

Die Bar jeder Vernunft und das BKA. Solche Bühnen in der Größe und Ausstattung gibt es in New York leider nicht. Hier habe ich mein erstes Solo-Programm aufgeführt – und das ist die schönste Erinnerung, die ich mitnehme.

Aber Berlin war kein Pflaster für Ihre Karriere?

Ich dachte, ich würde Touren durch ganz Deutschland haben und ein Cabaret- Star werden. Das hat nicht geklappt. Aber mein großer Traum war ein Solo- Programm – und das habe ich erreicht.

Sie fühlten, dass Berlin Sie gerufen hat. Haben Sie herausgefunden, warum?

Als ich herkam, dachte ich, es müsste wegen der Karriere sein. Aber es war die Liebe. Wenn ich jetzt nach New York zurückgehe, gehe ich nicht allein.

Letzter Auftritt von Sherry Vine: 28. 11.im gmf, Café Moskau, 23 Uhr