berliner szenen Handbuch für Lesungen

Strategisch sitzen

Die Autorenbuchhandlung in der Carmerstraße ohne Bücherkauf zu verlassen ist keine leichte Übung. Kaum eingetreten, trennt man sich von der Begleiterin, säumt die Regale mit diesem Bücherblick. 1976 wurde die Buchhandlung gegründet, von rund 100 Autoren mit je tausend Mark Startkapital. Die Autoren sind bis heute Gesellschafter, und auch der Anfang ist noch spürbar. Alte Ausgaben stehen da, anderswo längst vergriffen. Zum Haufen gestapelte Bücher neben den gereihten im Regal.

Auch die Lesung der Lyrikerin Ursula Krechel verbindet das Damals und das Heute: 1976, zwei Wochen nach der Eröffnung, war ihr Thema „Frauenbewegung und Literatur“. Heute heißt ihr neues Buch „In Zukunft schreiben. Ein Handbuch für alle, die schreiben wollen“. Krechel beginnt mit dem Beginnen, dem Entschluss zu schreiben. „Unendliches Glück“: Noch ist alles möglich. Doch was dann? Der Satz „Ich bin krank“ etwa. Es fehle diesem Satz „eine Dimension der Tiefe“. Umgestellt zu „krank bin ich“ hingegen klinge er bam bam bam – wie drei Glockenschläge. Da ist das schüchterne, unsichere Mädchen, das später, natürlich, Autorin wird, da sind „Sprachmünzen“ und „Sprachschlieren“. Plötzlich wird es sehr elementar. Dabei hatte der Titel, „für alle, die schreiben wollen“, so viel versprochen. Aber nach nachwachsenden Autoren sieht hier eigentlich sowieso niemand aus.

Wir jedenfalls sitzen nicht strategisch genug: zu weit von den Büchern entfernt. Ein Bekannte weiter hinten hingegen liest, wie er später bekennt, längst Sloterdijk. Er sitze hier, in der Autorenbuchhandlung, bei Lesungen immer strategisch. Wird die Zeit lang, studiert er die Titel, wird sie sehr lang, zieht er einen Band heraus. Am liebsten säße er bei L bis N. KATRIN KRUSE