Schwacher Afghane

AUS CHERMANI PETER BÖHM

Das Land sieht aus wie auf einer Fototapete: makellos blauer Himmel, im Hintergrund schroffe Berge, schneebedeckte Gipfel, davor schlängeln sich Bäche über grüne Felder. Lerchen zwitschern. Die Idylle trügt. Hier im Nordosten Afghanistans wohnt das Gift. In manchen der Dörfer in der Badachschan-Provinz sind bis zu 90 Prozent der Erwachsenen opiumabhängig.

Abdurasul Chulom raucht die Droge seit sechzehn Jahren. Der 56-Jährige sagt, er habe sich den Magen verdorben. Deshalb sitzt er heute in eine schmutzige Decke gehüllt auf einem Lager in seinem Wohnzimmer, das gleichzeitig Amtsstube und Opiumhöhle ist. An den Wänden hängen alte Wahlplakate, denn Chulom ist auch Bürgermeister der 750-Seelen-Gemeinde Chermani. Das Gesicht des Bürgermeisters sieht fahl aus, was an den Magenschmerzen liegen mag oder daran, dass es mühselig ist, sich zu erinnern, wie er damals abhängig wurde.

Zuerst erzählt er: „Ich hatte starke Rückenschmerzen. Jeder, den ich fragte im Dorf, sagte mir: ‚Wir haben keinen Doktor, nimm etwas Opium, dann wirst du gesund.‘“ Er habe es ein paar Mal geraucht, sagt er, schon war er abhängig. Ja, wusste er denn nicht, dass Opium süchtig macht? Er hebt ärgerlich die Stimme und sagt: „Oh nein! Niemand wird Ihnen sagen, dass Opium schädlich ist und dass sie es nicht nehmen sollten. Niemand ist hier zur Schule gegangen.“ Später gibt der Bürgermeister noch einen anderen, wunderlichen Grund an, wie es so weit kommen konnte: Damals, mit vierzig Jahren, sei er gerade Waise geworden. Dann fordert er – ganz Politiker –, dass es endlich Gesetze gegen den Anbau von Schlafmohn geben müsse. Die Rechtfertigungen gleichen sich darin, dass er nie selbst die Verantwortung trägt. Sie sind in einem mal ärgerlich mal weinerlichem Ton gehalten, dass man sich fragt, ob da nun der Bürgermeister spricht oder schon das Opium.

Willkommen in Afghanistan, wo in diesem Jahr mehr Schlafmohn geblüht hat als je zuvor. Wo jeder Zehnte am Drogengeschäft beteiligt ist, und wo man trotzdem fast nichts darüber hört. Fragt man Schlafmohnbauern, ob sie nicht fürchten, dass ihre Ernte auch ihrem Land schaden könne, sagen sie meist, in Afghanistan nehme doch niemand Opium. In einigen Regionen predigen Mullahs, Drogen an Ungläubige zu verkaufen, sei kene Sünde. Im vorigen Jahr wurden an der Grenze zu Usbekistan 125 Kilo Heroin beschlagnahmt – in kleinen Päckchen, auf denen stand: „Von Ussama Bin Laden“.

Doch Opfer der Opiumernte ist längst nicht mehr nur der Westen, es sind auch die Nachbarländer, durch die die Schmuggelrouten nach Europa führen. Nirgendwo auf der Welt ist die Zahl der Heroinabhängigen so hoch wie im Iran und in Pakistan, wächst die Zahl der Süchtigen so rasant, wie in den vormaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, wo Heroin so billig ist wie Brot und Milch. Inzwischen ist das Problem auch ins Ursprungsland zurückgekehrt. Nach einer Untersuchung der Hilfsorganisation „Focus“ sind von rund einer Million Menschen in der Provinz Badachschan bis zu 100.000 opiumabhängig. Die karge Region am Rande des Hindukusch, in der auch Bürgermeister Chuloms Dorf liegt, ist die am schlimmsten betroffen.

Opium wird hier schon lange geraucht. Vor 170 Jahren hat ein Herrscher der Region die Droge aus dem Westen Chinas eingeführt. „Weil der Genuss so eng mit der Familie des Herrschers verbunden war und bald auch mit den religiösen Autoritäten, hat sich der Gebrauch so weit in der Ismailiten-Region verbreitet“, schrieb der Arzt und Historiker Schams Ali Schams. In der Region, wo Afghanistan, Tadschikistan, China und Pakistan aneinander stoßen, leben fast nur Ismailiten, Anhänger einer schiitischen Sekte, deren religiöses Oberhaupt der Aga Khan ist.

Auch im Dorf Chermani leben Ismailiten. Der Bürgermeister, der sich inzwischen wieder etwas beruhigt hat, schätzt, dass in seinem Dorf jeder dritte Erwachsene abhängig ist. Auch Kinder, wie er zugibt. „Wir benutzen Opium, wenn wir krank werden, wenn wir keine Arznei haben, wenn unsere Kinder weinen oder schreien“, sagt er mit spöttisch zuckenden Mundwinkeln. „Die Mütter denken, dass ihre Kinder sonst sterben werden. Wenn die Mütter abhängig sind, blasen sie den Kindern selbst Rauch in den Mund. Wenn nicht, finden sie jemanden, der abhängig ist und es macht.“

Wenn Bürgermeister Abdurasul heute nicht krank wäre, sagt er, würde er wie jeden Tag auf seine Felder gehen und nach dem rechten sehen. Zwei Ehefrauen und 19 Kinder und Enkel leben auf seinem Hof. Abdurasul beteuert, dass er seine Sucht, die ihn einen guten Euro pro Tag kostet, durch die Landwirtschaft finanzieren kann.

„Ich habe eine paar Kühe und Schafe verkauft und einen Teil meines Weizens werde ich als Pfand bei einem Opiumhändler hinterlassen“, rechnet er vor. „Damit komme ich über die Runden, denn Opium ist billig in diesem Jahr.“ Viele andere aber im Dorf, erzählt er, haben sich wegen der Sucht so stark verschuldet, dass sie ihr Land verkaufen und in die Stadt ziehen mussten.

Inzwischen scheint sich in der Ismailiten-Region jedoch ein Bewusstseinswandel abzuzeichnen. Der Aga Khan hat bereits vor vier Jahren ein Edikt erlassen, das seinen Anhängern den Anbau, Handel und Konsum von Opium verbietet. Wenigstens angebaut wird er nicht mehr. Während im restlichen Badachschan überall Schlafmohn wächst, ist er in der Region der Ismailiten nicht zu sehen. Das Wort des Aga Khan, eines Multimillionärs mit weltweiten Geschäften, gilt hier auch deshalb viel, weil er die meisten Entwicklungsprojekte finanziert.

Auch der Sänger Meer Maftun ist so etwas wie eine Autorität. Er wurde in der kleinen Stadt Ischkaschem geboren und gilt als einer der bekanntesten Barden Afghanistans. Maftun – selbst abhängig – warnt inzwischen vor der Droge. Er hat ein Lied geschrieben, in dem er erstmals von seiner Sucht erzählt. „Junger Mann, du hast dir einen großen Mühlstein auf die Schultern geladen! Wer hat nur die Opiumpfeife, Opiumschachtel und den Opiumteller erfunden?“

Dreimal habe er den Entzug schon gemacht. Vergeblich. Immer wieder habe er von neuem angefangen, weil in seiner Region, in der auch Bürgermeister Chuloms kleines Dorf liegt, nichts los sei. Meer Maftuns Erklärungen klingen weniger seltsam als die des süchtigen Bürgermeisters. Maftun erklärt, die Mehrheit der Leute sei drogenabhängig, weil sie keine Arbeit hätten, keine Hobbys, und weil es zahllose Probleme gebe. Was ihn betrifft, hat er jedoch auch schon alle Schuld von sich gewiesen. Ich war in Europa, bin gebildet und ein bekannter Sänger, sagt er dann, aber auch ich bin abhängig, weil es hier einfach nichts zu tun gibt.

Bürgermeister Chulom immerhin hat gut zu tun. Auch wenn er krankheitsbedingt noch immer in seiner Opiumhöhle liegt. Entziehungskuren tut er sich nicht mehr an. Chulom glaubt, dass er nicht mehr davon lassen könne. Sollte er aufhören, sind für ihn die Folgen klar. Er hebt bedauernd die Hände: „Nach einer Woche bekomme ich Blutungen, dann sterbe ich.“

Den Alten im Dorf, die ihn damals verleitet haben, sei er aber nicht gram, auch wenn seine Gesundheit jetzt sehr schlecht sei. Wenigstens rät er jetzt niemandem, Opium zu rauchen. In seine Decke gehüllt, umringt von den Wahlplakaten, wird er zum Abschied fast staatsmännisch: „Wenn jemand zu mir kommt, und mich bittet, mitzurauchen, dann geht das nur, wenn ich weiß, dass er schon abhängig ist. Den jungen Leuten rate ich, geht zur Schule, erlernt ein Handwerk.“