Als Toter bekam er einen Namen

Der Pfarrer spürt bei den Kindern eine große Unsicherheit, die Polizei eher fehlende Betroffenheit

AUS NEULUSSHEIM SUSANNE STIEFEL

Mao geht nicht oft in die Kirche. Anfang November war der Mann mit dem langen Bart gleich zweimal dort. „Wegen dem Hennes“, sagt Mao, der nach dem großen chinesischen Vorsitzenden heißt, aber nicht mehr weiß warum. Hennes und Mao, zwei Obdachlose, der Volksmund nennt sie Penner, Mao nennt sich lieber Weltenbummler. Sie haben sich gekannt, wie man sich eben kennt auf der Straße.

Nun ist Hennes tot. Erschlagen. Von Jugendlichen und Kindern. Und Mao hat eine Kerze gekauft. Dort am Altar der evangelischen Kirche in Neulußheim steht Hennes’ Fahrrad samt Anhänger, mit dem er immer einkaufen gefahren ist. Direkt hinter dem inzwischen schon berühmten Aufkleber „Ein Herz für Kinder“ hat Mao seine Kerze in eine Bierflasche gesteckt und angezündet. „Der Hennes hat Bier geliebt“, sagt Mao. Das ist seine Art zu trauern.

Die Kirche ist brechend voll bei diesem Trauergedenkgottesdienst für Johann Babies, den seine Freunde Hennes nannten. Ganze Schulklassen drängen sich in den Reihen, es werden zusätzliche Bänke aufgestellt. Zwei Wochen sind seit der schrecklichen Tat vergangen, und die Neulußheimer sehnen sich nach klaren Worten und einem Schlussstrich. Doch die Trauerfeier ist erst der Anfang. „Gewalt beginnt im Kopf, mit der Sprache“, sagt Bürgermeister Gerhard Greiner in der Kirche, „sie bestimmt über die Medien unsere Alltagswahrnehmung.“ Jede Erklärung bleibt provisorisch und bruchstückhaft.

Am späten Nachmittag des 15. Oktober, so das Vernehmungsprotokoll, fährt eine Gruppe von acht Jugendlichen zu der Waldhütte, in der Penner-Paule, wie sie ihn nennen, Unterschlupf gefunden hat. Mit einem mitgebrachten Prügel, herumliegenden Ästen und einem Besenstiel schlagen sie über zwei Stunden lang auf den 54-jährigen Obdachlosen ein. Der Hauptverdächtige ist 19 Jahre alt, die andern zwischen zwölf und 14, auch zwei Mädchen sind dabei. Viele schlagen zu, keiner ruft Nein, das Protokoll spricht von anfeuernden Rufen. Das Opfer lassen sie mit Rippenbrüchen, Frakturen an Armen und Beinen liegen. Johann Babies, genannt Penner-Paule, stirbt an inneren Blutungen und Unterkühlung. Kein Kind vertraut sich den Eltern an, kein Jugendlicher telefoniert um Hilfe. Nicht einmal anonym. Seitdem fragen sich nicht nur die Neulußheimer, was mit ihren Kindern los ist.

Fast zehn Jahre lang lebte Johann Babies in Neulußheim, einem kleinen Ort bei Hockenheim in Baden-Würtemberg. Viele der 6.000 Einwohner kannten sein Gesicht, doch für die meisten hatte er weder einen Namen noch eine Geschichte. Er saß an der Bushaltestelle vor dem Rathaus, wenn er sein Tagesgeld abgeholt hatte, sein Fahrrad samt Anhänger gehörte zum Ortsbild, sein roter Bart leuchtete. Der Bürgermeister grüßte, der Pfarrer plauderte mit ihm, wenn er zum Essen ins Pfarrhaus kam. Einen Namen bekam Johann Babies erst, als er tot war.

Mao, der mit ihm auf Platte war, ist wohl der Einzige, der seine Geschichte kennt. Fernfahrer sei er gewesen, viel unterwegs, verheiratet und glücklich, bis ihn seine Frau betrog. „Das war an Weiberfasnet“, erzählt Mao, „darüber ist er nie weggekommen. Der Hennes war monogam.“ Er trank, verlor seinen Führerschein, seine Arbeit, seine Wohnung. Und landete so auf der Straße. „Er war mitten im Ort und doch nicht Teil der Dorfgemeinschaft“, sagt der Pfarrer selbstkritisch. Aber auch das erklärt eigentlich nichts.

Rektor Peter Scholl ist ein ernster Mann. Er ist 54 Jahre alt, die Anspannung der letzten Wochen hat seine Mundwinkel nach unten gebogen. Eines der tatverdächtigen Mädchen ging in seine Schule, bevor sie beurlaubt wurde. Nur eine der Tatverdächtigen, aber auch eine ist zu viel. Sie fiel weder durch besondere Aufmüpfigkeit auf noch dadurch, dass sie außergewöhnlich in sich gekehrt war. Ein normales Mädchen eben, aus einer unauffälligen deutschen Familie, wie die anderen auch. Das erschreckt viele am meisten.

Peter Scholl hat all die Fernsehteams rausgeworfen, die in seine Schule drängten und Schüler vor die Kameras zerrten. Er hat Schulpsychologen ins Haus geholt, hat diskutiert mit den Schülern. Die müssen damit leben, dass die 13-Jährige, die sie als freundliches Mädchen kennen, mindestens dabei war, als ein wehrloser Mann totgeschlagen wurde. „Mörderin!“, beschimpfen sie die einen. „Sie bleibt meine Freundin“, sagen die anderen. Nicht nur die Klasse ist zerrissen. „Wir haben versagt“, sagt der Schulleiter und meint nicht nur die Schule. „Aber wir wissen nicht wo.“ An der Schule gibt es Training für Gewaltprävention, Mediatoren und eine Schulordnung, die Gewalt ausdrücklich verurteilt.

Wie konnte das passieren? Wie konnten sie stundenlang auf jemanden einprügeln, der schon wimmernd am Boden lag? Diese Fragen quälen auch den Rektor. „Manchmal kommt es mir vor, als hätten die Kinder nicht realisiert, was sie da tun“, sagt Scholl zögernd, „als ob sie dachten, man könne einfach einen Knopf drücken, und das grausame Spiel ist aus.“ Doch es war kein Videospiel, das weiß auch der Rektor. Es ist nur ein weiteres Bruchstück.

Der Waldweg zur Hütte ist nass vom Regen und übersät mit toten, schwarzen Käfern. Er führt dicht vorbei an Johann Babies Zufluchtsort, der zum Tatort wurde. Nur hundert Meter entfernt die Tennishalle und das Waldhaus, wo man italienisch essen kann. Gleich hinter den Bäumen rauscht die befahrene Bundesstraße. Dieser Ort ist nicht am Rand der Welt. An der Hüttenwand klebt die Todesanzeige der Gemeinde: „Unfassbares ist in unserer Gemeinde geschehen. Wir wollen nicht vergessen. Wir erinnern und gedenken Johann Babies’.“ Darunter Gestecke und Töpfe voll Erika und Stiefmütterchen.

Wo Johann Babies gelebt hat, liegen Müllsäcke voller Bierdosen, eine alte Hose, Holzscheite, das Gerüst eines Fahrrads. Alles liegt durcheinander, übereinander, Dreck, Müll, versiffte Lappen. Meinten die Täter, das Leben eines Menschen, der so lebt, sei nichts wert? Auch das ist nur ein Bruchstück.

Also wabern viele Gerüchte durch Neulußheim: „Die wollten die Hütte für sich“, heißt eines. „Der Ältere, in der Schule nur Sechsen, der wollte doch zur Bundeswehr. Dann hätte er noch rumgeballert“, vermuten andere. Ein Gerücht scheint sich inzwischen als wahr herausgestellt zu haben: Schon zwei Tage vor seinem Tod sollen Neulußheimer Jugendliche Johann Barbies brutal zusammengeschlagen haben. Fest steht, dass die Polizei gegen vier weitere 14- und 15-Jährige ermittelt.

Die Empörung ist groß in Neulußheim. Sie mündet in anonymen Briefen und E-Mails an den Bürgermeister. Der Stammtisch hat die Täter im Blick und fordert harte Strafen für die Kinder. „Was sind das eigentlich für Menschen, die so was machen? Oder sind das überhaupt noch Menschen?“, fragt ein Anonymus, der sich selbst als junger Neulußheimer bezeichnet. Vor so viel selbstgerechtem Zorn wird auch dem Bürgermeister kalt. Simple Lösungen ersparen schmerzhaftes Nachdenken.

Die Familien sollen wegziehen, ist so eine Forderung. „Ratschläge können wie Schläge sein“, sagte Pfarrer Uwe Sulger im Trauergottesdienst. Und später im Pfarrhaus fügt er noch hinzu: „Ich will nicht, dass die Leute durchs Dorf gejagt werden.“ Der 44-Jährige ist ein engagierter Pfarrer, in seiner Jugend war er selbst in einer Art Bande in Mannheim. Er weiß, was Gruppendynamik ist, er kennt Begriffe wie Ehre und Mut.

Sulger betreut zwei Tatverdächtige und deren Familien, vermittelt therapeutische Hilfe, bietet selbst Gespräche an. „Ich spüre eine Riesenunsicherheit bei den Kindern“, sagt Sulger. Die Polizei stellte bei der Vernehmung eher fehlende Betroffenheit fest. Sulger glaubt, die Jugendlichen realisierten erst langsam, was sie getan haben. Aber sie müssten lernen, die Verantwortung zu übernehmen und mit der Schuld zu leben.

Auch Bürgermeister Greiner will die Jugendlichen nicht verdammen. Seit mehr als zehn Jahren ist er im Amt. Die letzten Wochen waren die schwersten. Auch er sucht nach Erklärungen und findet nur Bruchstücke. Doch als Rathaus-Chef muss er manchmal ganz praktisch denken. Nach Wochen der Lähmung und des Schweigens hätten die Bürger klare Worte erwartet. Mit dem Trauergottesdienst wollte Greiner nicht nur Abschied von dem erschlagenen Obdachlosen nehmen. Er wollte auch die aufgeladene Stimmung im Ort in den Griff bekommen. Das war vor vier Wochen.

Doch der Bürgermeister will mehr, will wenigstens ein paar der Bruchstücke zu einem Bild zusammenfügen, will gemeinsam mit anderen weiterfragen: „Warum haben Kinder, die in unsere Kindergärten und Schulen gingen, eine so schreckliche Tat begangen? Was ist bei uns falsch gelaufen? Wie kann man verhindern, dass sich eine solche Tat wiederholt?“

Mit einem runden Tisch vor wenigen Tagen hat die Spurensuche in Neulußheim begonnen. „Wir legen die Sache nicht ad acta, wir haken es nicht ab, wir wollen es aufarbeiten“, sagt Greiner. „Wir“, das sind Pfarrer Sulger, Schulleiter Scholz, die Jugendarbeiterin und Experten der Polizei. Sie wollen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Sie wollen unbequeme Fragen stellen und vor allem Antworten finden.

Nicht allen in Neulußheim gefällt dieser Eifer. Viele meinen, einen Anspruch auf ein Stück Normalität zu haben. Viele wollen nicht mehr erinnert werden an eine Tat, für die sie sich nicht mitverantwortlich fühlen wollen. Bis auf einen sind die tatverdächtigen Schüler nach den Herbstferien und vierwöchiger Beurlaubung nicht mehr an ihre alten Schulen zurückgekehrt. Den 14-Jährigen drohen Jugendstrafen, die Jüngeren sind noch nicht strafmündig. Für den 19-Jährigen wird es wohl härter kommen. Er sitzt immer noch in Untersuchungshaft. Bis zum Prozess. Der soll Anfang nächsten Jahres beginnen. Viele hoffen dann auf einen Neuanfang.

Längst gehen alle in Neulußheim wieder ihren Geschäften nach. Mao hat sein Tagesgeld heute schon abgeholt und steht an der Bushaltestelle, wo auch der Hennes immer saß, und trinkt ein Bier. Längst flackern hier keine Kerzen mehr, die Gestecke und Blumen sind verschwunden. Der Bürgermeister hat den örtlichen Bauhof beauftragt, die Trauerstelle zu räumen.