Poetisch runtergestochen

„Turbulenzen“, Chang-rae Lees toller Roman über den Verfall einer gut situierten und angesehenen amerikanischen Einwandererfamilie

VON MARION LÜHE

Über den Wolken ist die Freiheit grenzenlos, und da sieht auch die Welt ganz anders aus, als wenn man mitten drinsteckt im täglichen Gewusel. Während Jerry Battle, ein fast sechzigjähriger Frührentner und passionierter Hobbyflieger, in seiner kleinen Propellermaschine über seinem Wohnort auf Long Island kreist, blickt er auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Wer nun aber einen altersweisen, mit Lebensklugheiten gesättigten Bericht erwartet, sieht sich bald getäuscht: „Keine Sorge, jetzt kommt nicht etwa der Moment, wo jemand auf halber Strecke, ächzend unter der Last der Selbstvorwürfe und mit dem Charme dessen, der Bescheid weiß, Bilanz über sein bisheriges Leben zieht, oder irgend so’n Quark.“

In Rückblicken, die keiner chronologischen Ordnung, dafür aber den jähen Eingebungen von Jerrys Erinnerung folgen, erzählt „Turbulenzen“ die Geschichte und Geschichten der aus Süditalien stammenden Familie Battaglia, die sich, kaum dass sie in New York Fuß gefasst hat, in „Battle“ umtauft. Der –nomen est omen – Kampfgeist, den die Generation von Jerrys Großeltern und Eltern noch angetrieben hat, ist dem Erzähler längst abhanden gekommen. Durch den frühen Selbstmord seiner koreanischen Frau Daisy verstört, gibt er die Leitung der vom Großvater gegründeten Gartenbaufirma vorzeitig an seinen Sohn ab, dessen ambitionierten Pläne und Verschwendungssucht das Familienunternehmen prompt in den Ruin treiben. Seine Tochter Theresa, im frühen Stadium schwanger und an Lymphdrüsenkrebs erkrankt, will das Baby gegen den Rat der Ärzte austragen, statt sich sofort einer Behandlung zu unterziehen. Derweil ist Jerrys greiser Vater, ein italienischer Patriarch alten Schlages, aus dem Altersheim ausgebrochen und streunt hilflos im Pyjama durch die Vororte New Yorks.

Dass Chang-rae Lees drei Generationen umfassender Roman über den Verfall einer zu Wohlstand und Ansehen gelangten Einwandererfamilie nicht zum Lamento geraten ist, liegt auch an dem pointierten, lakonischen Tonfall, in dem der Ich-Erzähler von den „potentiellen Kalamitäten und diesem ganzen Kummer“ berichtet. Bloß keine „mittelhochgestochene poetische Kacke“, so sein Motto. Bei aller Traurigkeit, die hin und wieder hinter seiner Coolness durchscheint, bewahrt Jerry seine schnoddrige, von Christa Scheunke schwungvoll ins Deutsche übertragene Alltagssprache vor allzu großer Sentimentalität. Sogar dass seine langjährige puerto-ricanische Freundin Rita ihn verlassen und sich in die Arme des superreichen Anwalts Ritchie Coniglio, eigentlich ein „alternder New Yorker Durchschnittsspaghetti“ wie er selbst, geflüchtet hat, nimmt er mit ironischer Gelassenheit hin. Das ungleiche Tennisduell, das der vermeintliche Loser und der siegesgewisse Millionär weniger um dessen 92er Ferrari Testarossa als vielmehr um die geliebte Rita bestreiten, gehört zweifellos zu den Höhepunkten dieses großartigen Romans.

Ganz nebenbei erzählt Lee, der als Dreijähriger mit seinen Eltern aus Korea in die USA kam, von den gesellschaftlichen Zuständen und Umbrüchen seines Landes. Seine Protagonisten sind die Kinder und Enkel von Immigranten aus Asien, Europa und Südamerika, die ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben und ängstlich darauf bedacht sind, sich von den Neuhinzukommenden abzugrenzen. Auf amüsante, niemals anklägerische Weise erstellt Lee eine „Phänomenologie des amerikanischen Selfmademans“.

Von der sicheren Warte desjenigen, der auf dem oberen Drittel der sozialen Leiter angekommen ist, wirft Jerry einen Blick auf die Kindheit seines Vaters, die durch Armut, Not und schlechte Behandlung geprägt war, „was man heutzutage als Rassismus und Diskriminierung bezeichnen würde und was man damals einfach ‚ne scheiß Situation‘ genannt hat“.

Er vermutet, dass man den Vater in moderneren Zeiten wohl „mit ’nem ganzen Team von Soziologen, Erziehern und Therapeuten“ in ein spezielles Integrationsprogramm für gefährdete Jugendliche gesteckt und dabei „wahrscheinlich alle möglichen Lernschwächen und emotionalen Störungen“ diagnostiziert hätte. Wie aber, lautet seine „gar nicht mal so rhetorische Frage“, soll ein Charakter geformt werden, „wenn man immer ordentlich Rückenwind gehabt hat, stets ein voll gepacktes Buffet bei Tisch und allemal das Gefühl, ein behütetes, fallschirmbeschirmtes, airbagabgefedertes Luftikusdasein?“

Mit sanftem Druck wehrt sich Jerry gegen die ständige Bevormundung und die Machosprüche seines konservativen Vaters, aber auch gegen die allzu glatte, politisch korrekte, durch und durch akademische Sichtweise seiner „hyperintellektuellen“ Tochter. Über Liebe und Tod traut sich Jerry auch ohne Philosophiestudium und eckige Brille ein Urteil zu. Wenn am Ende des Buches die Battles unter dem Eindruck dramatischer Ereignisse wieder näher zusammenrücken, ist es für alle wie eine Befreiung. Auch für Jerry, obwohl er weiß, dass der Grat zwischen familiärer Geborgenheit und erdrückender Enge schmal ist. Wer sich daraus befreien will, muss in die Luft steigen.

Chang-rae Lee: „Turbulenzen“. Aus dem Amerikanischen von Christa Scheunke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 441 Seiten, 22,90 Euro