Torschuss auf Krücken

Seit dem Fall der Taliban kann in Afghanistan wieder ungehindert Sport ausgeübt werden. Dochnicht alle Menschen haben den Krieg unbeschadet überlebt. Ihnen gilt ein Fußballprojekt in Kabul

AUS KABUL CARSTEN STORMER

Auf dem ausgetrockneten Fußballfeld laufen ausgemergelte Gestalten einem abgewetzten Ball hinterher. Die Spieler sind zwischen fünfzehn und dreißig Jahre alt. An sich nichts Ungewöhnliches, würde man sich in einem normalen Land befinden. Doch die Szene spielt in Afghanistan vor der Kulisse des ehemaligen Olympiastadions. Dort, wo bis vor wenigen Jahren die öffentlichen Hinrichtungen von Delinquenten, die gegen die absurden Normen und Regeln der Taliban verstoßen hatten, stattfanden. Seit dem Sturz der Taliban kann man auf jeder Wiese oder jedem offenen Feld wieder Sport treibende Menschen sehen. Doch etwas unterscheidet diese Spieler von anderen: einige laufen auf Krücken, andere haben anstelle eines Arms nur noch einen Stumpf, der aus ihrem Ärmel herausschaut. Sie sind Opfer des 23-jährigen Krieges, die noch keinen Platz in der neuen afghanischen Gesellschaftsordnung gefunden haben.

Aufgrund des jahrzehntelangen Terrors, der Landminen und Blindgänger, lebt in Afghanistan eine besonders große Zahl von Menschen mit Behinderungen. Die Hilfsorganisation Handicap International (HI) hat mit Unterstützung des Weltfußballverbands Fifa ein Projekt für diese Menschen ins Leben gerufen. Die Fifa stellte 35.000 Euro zur Verfügung, um gemeinsam mit den nationalen Vereinigungen Trainer auszubilden und Schuhe oder Trikots zu finanzieren.

„Sport fördert die körperliche Rehabilitation, aber auch das Selbstbewusstsein und die soziale Wiedereingliederung von Menschen, die behindert oder traumatisiert sind“, sagt Françoise de Keersmaker von der deutschen Sektion von HI in München. Mohammed Sardar, ein 27-jähriger Afghane, ist einer von ihnen. Sein linkes Bein musste amputiert werden, nachdem er auf eine Landmine getreten war. Auf seinen Krücken hinkt er, so schnell er auf dem unebenen Gelände kann, dem Ball hinterher. Mit einer Krücke stoppt er das Leder, mit der anderen legt er sich den Ball zurecht. Er hält kurz inne, stützt sich auf beide Gehhilfen, dann schießt er den Ball ins Tor. Jubel bricht aus. Heute wird gemischtes Doppel gespielt – in jedem Team drei Einarmige und drei Einbeinige. Die Chancengleichheit soll gewahrt werden – so zynisch das in einem Land wie Afghanistan klingen mag.

Mohammed hat keinen Job, von der afghanischen Übergangsregierung erhält er sechs Dollar im Monat – selbst in Afghanistan reicht das nicht zum Überleben. Zigaretten, die er erbettelt, verkauft er am Straßenrand, um seine Frau und seine Tochter zu ernähren. Die anderen Spieler haben ähnliche Schicksale erlitten – Landminen, Handgranaten oder Raketen haben sie ihrer Extremitäten beraubt. Ziel des Projekts ist es, neben der Integration, eine Behindertenliga aufzubauen. Dies gäbe den afghanischen Spielern die Möglichkeit, an großen internationalen Veranstaltungen wie Paralympics, Special Olympics oder an internationalen Freundschaftsspielen teilzunehmen.

Trainer Sajed Kabir Haschimi, selbst durch eine Raketenexplosion verstümmelt, sagt von seinen Spielern, dass sie sehr gute Fortschritte machen. „Wenn ich bessere Trainingsmöglichkeiten hätte, könnten meine Jungs jedes Team der Welt schlagen.“ Als er jung war, spielte der Fußballbegeisterte selbst in einer Mannschaft, bis eine Rakete in die Bäckerei einschlug, in der er gerade Brot einkaufte. Hauptberuflich ist Haschimi als Rezeptionist im Wasir-Akbar-Khan-Krankenhaus, einem physiotherapeutischen Institut, angestellt. Er ist der Einzige der Mannschaft, der einen Beruf ausübt.

Noch fehlen in Afghanistan die Strukturen für Behindertensport. Trainer Haschimi beklagt vor allem, dass kein Geld für den Transport der Spieler bereitgestellt wird. Aufgrund ihrer Behinderungen haben sie es besonders schwer, sich in Kabul fortzubewegen. „Die Spieler kommen von überall her. Wenn das Projekt Erfolg haben soll, benötigen die Spieler ein wenig Geld – und sei es nur, um sich nach dem Training mit einem Glas Milch zu stärken“, sagt er.

Wie die Spieler in den Straßen Kabuls überleben und dennoch die Energie für das Training aufbringen, weiß auch er nicht. Immerhin wird dreimal die Woche morgens und abends ein Training abgehalten. Dabei hat sich seit dem Fall der Taliban schon einiges geändert. Bis vor kurzem mussten sie noch die bärtigen Gotteskrieger um Erlaubnis bitten, um Fußball spielen zu dürfen. Oft wurden sie wegen antiislamischer Betätigungen geschlagen oder beschimpft.

Im Schatten der zerschossenen Ruinen von Kabul werfen die Spieler ihre Krücken weg und fallen in den Staub. Das Training ist zu Ende. Sie sind erschöpft und verschwitzt, doch der Spaß an dem Spiel ist ihnen deutlich anzumerken. Der einbeinige Mohammed zieht wieder seine zerfetzte Uniform an. Unter seiner Jacke blitzt eine Armeepistole aus einem Patronengurt hervor – seine Art, um in den Straßen Kabuls zu überleben.