Ein Schweizer sucht die Identität des Kontinents

Seit Mittwoch versucht sich der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg in Essen an der Antwort auf eine schwierige Frage: „Was ist europäisch?“ Schon zum Auftakt der Krupp-Reihe ist dem Berliner Akademiepräsidenten und Büchner-Preisträger klar: Abgrenzung ist jedenfalls nicht europäisch

„Europa war keine Europäerin.“ Mit dieser Auffrischung der Mythologiekenntnisse eröffnete Adolf Muschg, Schriftsteller und Präsident der Berliner Akademie der Künste am Mittwoch in der Villa Hügel die Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte. Das Thema, der vom Essener Kulturwissenschaftlichen Institut ausgerichteten Reihe lautet „Was ist europäisch?“. Und auch wenn die von Zeus nach Kreta entführte phönizische Prinzessin „Europa“ keine gebürtige Kontinentale war, die europäische Kultur hat sie nachhaltig bereichert.

Das gleiche gelte auch für das Alphabet, dessen Erfindung eine zivilisatorische Innovation der im Nahen Osten lebenden Phönizier gewesen ist. Europa, so Muschg, habe immer von der Konfrontation mit dem Nichteuropäischen und dessen Integration profitiert. Daran gelte es anzuknüpfen. „Europa muss sich auf seine eigene Geschichte besinnen“, mahnte der mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnete Schriftsteller. Vorbilder und Vorbildliches gebe es vieles in der langen Geschichte des Kontinents mit den unscharfen Grenzen. Etwa die politische Kultur Griechenlands. „Selbst dem Kontrahent Persien hat Aischylos dadurch Würde verliehen, dass er ihn als tragischen Part in seinem Theaterstück ‚Die Perser‘ auftreten lässt und nicht einfach nur als böser Erzfeind“, erinnerte Muschg.

Auch deutsche Geschichte habe nicht erst 1933 begonnen. Die bürgerschaftliche Ordnung der mittelalterlichen Freien Reichsstädte sei Teil des europäischen Kulturerbes: „Sie hat dazu ebenso viel beigetragen wie die oberitalienischen Stadtrepubliken“. Und so könnte auch seine Heimat, die Schweiz, ihren Beitrag zum europäischen Ganzen leisten. Von den dortigen föderalistischen Strukturen – auch die sind ein Überbleibsel der deutschen Reichsstruktur, die Eidgenossen sind endgültig erst nach dem Dreißigjährigen Krieg daraus ausgeschieden – könne auch das zum Zentralismus und zur Bevormundung neigende Brüssel vieles lernen. „Ich wünsche Europa die Schweiz und der Schweiz wünsche ich Europa“, sagte Muschg und spielte damit auf die immer noch ablehnende Haltung seiner Landsleute gegenüber einem EU-Beitritt an. Weil die Alpenrepublik von der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs verschont blieb, sei eine Mehrheit der Meinung, man habe doch alles richtig gemacht – die zum „Mythos“ geronnene Neutralität des Landes sei der Schlüssel zum Wohl. Das sieht Muschg anders und wird dafür in seiner Heimat angefeindet.

„Abgrenzung ist der falsche Weg und sie ist nicht europäisch.“ Pragmatisch solle man den Herausforderungen der Gegenwart begegnen. Auch das sei europäische Tradition. Statt die „Festung Europa“ – übrigens ein Begriff von Josef Goebbels – zu errichten, sollten sich die Europäer einlassen auf das Fremde, das Andersartige. Auch hier zeige die Schweiz, in der immerhin vier verschiedene Sprachgemeinschaften recht gut zusammen leben, wie es funktionieren kann.

Zum Pragmatismus gehöre auch die Erkenntnis, dass es keine einfachen Antworten gebe. Die scheinbare Lösung eines Problems, bringe zugleich auch ein neues mit sich. „Niels Bohr hat dazu bemerkt, dass wahre Sätze daran zu erkennen sind, dass stets auch ihr Gegenteil ebenso wahr ist“, zitierte Muschg den dänischen Naturwissenschaftler.

Muschg wird seine kontinentalen Gedanken in den nächsten Monaten bei drei öffentlichen Vorträgen in Essen vertiefen. Jeweils um 18 Uhr geht es am 30. November im Europahaus um den „geteilten Erdteil Europa“, am 14. Dezember im Aalto-Theater um den „Umgang mit Grenzen“ und am 8. Februar im Folkwang-Museum um den „Bundesstaat Europa“. Dabei will er der Frage der Identität der Europäer näher kommen.

Nur durch eine sich zunehmend global aufstellende Wirtschaft allein ist die für Muschg kaum herzustellen: „Europa wird ein kulturelles Projekt, oder es wird gar nichts sein“. Anstatt der eher betriebswirtschaftlich inspirierten Bologna-Vorstellungen der Europäischen Union, mit ihren kontinentweit vereinheitlichten Bachelor- und Masterstudiengängen, forderte er den Bezug auf Humboldtsche Bildungsideale.

Mit der Identitätsfindung solle man sich im Übrigen beeilen: „Zur Zeit ist das bequem auch durch die Abgrenzung von Amerika. Aber Bush wird uns nur noch vier Jahre erhalten bleiben, auch wenn die sehr lang sein können.“ HOLGER ELFES