Entschlossen, einig, zermürbt

AUS XIANYANG GEORG BLUME

Sieben Wochen legten die 6.000 Arbeiter und Arbeiterinnen der Tianwang-Textilfabrik in Xianyang im Nordwesten Chinas die Arbeit nieder. Sieben Wochen lang herrschte auf der „Renmin-Lu“, der breiten Einkaufsstraße im Zentrum der alten Kaiserstadt, ein nicht öffentlich erklärter Ausnahmezustand. Doch das ist nur ein Beispiel: Überall in China protestieren Arbeiter und Bauern gegen ihre Benachteiligung im boomenden KP-Kapitalismus. Regierungsinterne Polizeidokumente sprechen von 56.000 öffentlichen Protesten im vergangenen Jahr.

Meist erfährt die Welt wenig von den Aktionen. Oft sind die kommunistischen Behörden klug genug, die Konflikte rechtzeitig zu entschärfen. Doch der Druck lässt nicht nach: In diesem Herbst kochte gleich eine Reihe von Protesten so hoch, dass sie trotz ihrer Ausblendung durch die Zensur in China außerhalb des Landes für Aufsehen sorgten.

Zu ihnen zählt auch der Streik der Tianwang-Weber in Xianyang. Ihre Fabrik liegt unmittelbar an der Renmin-Lu im Stadtzentrum. Weiträumig sperrte die Polizei bis Anfang November das Fabriktor ab, vor dem die ArbeiterInnen rund um die Uhr in den gewohnten Schichten Streikwache schoben. Sie hockten auf Holzschemeln unter drei notdürftig aufgespannten Plastikplanen, spielten Karten und strickten, verfolgt von den wachsamen Augen zahlreicher Zivilpolizisten.

Journalisten konnten die Szene nur von weitem, aus den Flurfenstern der gegenüberliegenden Fabrikwohnungen beobachten. Chinesische Reporter, die sich vors Fabriktor wagten, nahm die Polizei fest und beschlagnahmte ihr Bildmaterial. So erfuhr die chinesische Öffentlichkeit nichts vom dem Ausstand der Weber. Obwohl der Streik nach Auffassung des unabhängigen Hongkonger Gewerkschaftsinformationsdienstes China Labor Bulletin seit Jahrzehnten seinesgleichen suchte – „sowohl was die Länge als auch was die Entschlossenheit und Einigkeit der Arbeiter betrifft“, wie das Bulletin berichtete.

Indes waren die Forderungen der Tianwang-Angestellten nicht außergewöhnlich. Wie viele ehemalige Staatsbetriebe in China hatte ihre Fabrik den Besitzer gewechselt: China Resources, ein internationaler, an der Hongkonger Börse notierter Gemischtkonzern hatte die auf Ebene der Provinz Shaanxi als Marktführer geltende Fabrik im Sommer übernommen. Im Fall einer derartigen Privatisierung steht den Arbeitern nach Vorschrift der Pekinger Zentralregierung eine Entschädigungszahlung zu: jeweils ein Monatslohn für ein Jahr Betriebzugehörigkeit. Für die Tianwang-WeberInnen, deren Mehrheit schon viele Jahre dem Betrieb angehört, ging es also um viel Geld. Doch behauptete der neue Eigentümer China Resources wohl zu Recht, dass die Entschädigungssumme für die Arbeiter im Kaufpreis der Fabrik enthalten gewesen wäre. So ist das üblich. Üblich aber ist in China auch, dass Parteikader auf Betriebs- und Provinzebene Gelder veruntreuen, die Angestellten oder Steuerzahlern zustehen.

Hier lag in Xianyang der Kern des Konflikts. Die Tianwang-Angestellten glaubten, dass ihre ehemaligen Fabrikherren sie betrogen und ihre Entschädigungen unterschlagen hatten. Am Ende verhandelten sie nicht mehr mit der Betriebsführung, sondern mit der Regierung der Provinz Shaanxi. Die aber ließ verkünden: „Unsere Provinz ist so arm, dass wir die Entschädigungen nicht zahlen können.“

Reicher Süden, armer Norden

Tatsächlich ist die regionale Ungleichheit – der arme Nordwesten liegt weit hinter dem prosperierenden Südosten zurück – ein Grund dafür, dass China heute laut Weltbank das Land mit dem am schnellsten wachsenden Einkommensgefälle der Welt ist. Schon hat der gängige Maßstab für die Ungleichheit in einem Land, der so genannte Gini-Koeffizient, die 0,4-Prozent-Marke überschritten, ab der Experten die soziale Lage für explosiv halten.

Je größer aber der Abstand zwischen den relativ armen Arbeiter- und Bauernmassen in China und der neuen, nicht schnell genug wachsenden Mittelschicht des Landes, desto größer der Ärger der Bevölkerung über das längst Offensichtliche: die Korruption im Ein-Parteien-Staat und die Rechtlosigkeit derer, die diesen anfechten.

Wobei die Protestierenden in der Regel genau unterscheiden: zwischen ihrer Kritik an der Misswirtschaft vor Ort und der Zustimmung zum marktwirtschaftlichen Reformkurs der Zentralregierung. Ein Grundvertrauen, dass sich die KP-Spitze in Peking für die Interessen der einfachen Leute stark macht, ist durchaus noch vorhanden.

Nicht umsonst beriefen sich die Streikenden in Xianyang auf eine Vorschrift der Zentralregierung. Ebenso die Bauern am Dadu-Fluss in Sichuan: Nach Hongkonger Zeitungsberichten demonstrierten zuletzt zehntausende von ihnen gegen ihre Lokalregierung, weil gesetzliche Entschädigungsversprechen für das wegen eines Staudammbaus verloren gegangene Land nie ausgezahlt wurden. Das Muster des Protests ist auch hier das gleiche: Bauern oder Arbeiter fordern korrupte Kader auf, sich an die Pekinger Gesetze zu halten.

Die Ergebnisse sind oft gemischt: In Xianyang sind die Streikenden am Ende zermürbt, weil ein Dutzend von ihnen „verschwunden“ ist. Hier liegt, vor dem offenen Einsatz der bewaffneten Volkspolizei mit ihren Wasserwerfern, das vorletzte Mittel der Behörden: Ein Gesetz gegen Staatsverrat macht möglich, Protestführer ohne Anklage für längere Zeit zu verhaften. In Xianyang drohen den Verhafteten nun lange Haftstrafen oder die Umerziehung in Arbeitslagern. Dennoch war ihr Protest nicht umsonst: Erfolgreich hatten die Streikenden zunächst andere Forderungen, wie die Fortzahlung von Kranken- und Rentenversicherung, gegen das Management von China Resources durchsetzen können. Womit sich eine weitere Grundregel der Proteste in China bestätigte: Erlaubt ist, was der Partei nicht schadet.