umsorgt auf dem lande von FANNY MÜLLER
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Da alles schon ausgebucht war, fuhr ich 1. Klasse nach Dortmund. Es dauerte eine Weile, bis ich mein Abteil fand. Eigentlich kann man in einem Zug nicht viel verkehrt machen, es gibt ja nur zwei Richtungen. Ich nahm die andere.

Die beiden Damen, die in meinem Abteil saßen, fand ich bereits schnarchend vor. Sie rührten sich drei Stunden nicht von ihren Sitzen. Ich las einige Zettel, die jemand auf der Kofferablage vergessen hatte. Es handelte sich um einen Auszug aus dem Wall Street Journal vom 28. August mit dem Titel „The Right Model for a wider Europe“ und dem Untertitel „The EU wants Ukraine to be more like Norway“, was mir schwer zu denken gab. Hat die Ukraine wirklich so viele Berge, dass man da Ski fahren kann?

Die Lesung in Dortmund war prima; aber Gerda leckte mir diesmal nicht die Füße, weil ich nämlich Stiefel anhatte. Gerda ist ein Hund.

Aber dann ging es nach V., in die Finkenstraße, wo die B.s wohnen, die dort ein Haus besitzen. Das Haus hat acht Zimmer und ist mit 20.000 Büchern recht ausgefüllt. Allerdings kommen noch elf Geigen, drei Schifferklaviere und ein Flügel dazu sowie diverse andere Sammelobjekte, zum Beispiel Zigarettenschachteln und Postkarten, ganz abgesehen von der Bildergalerie und der CD-Sammlung und noch einer Menge anderer Dinge, die mir jetzt entfallen sind. Immer, wenn die Hausfrau nach irgendwas suchte und es nicht fand, sagte sie: „Ach, ich glaube, das ist in Amsterdam!“ In Amsterdam haben sie nämlich noch eine Wohnung, in der auch ein Flügel steht. Logisch eigentlich, dass sie jetzt ein weiteres Haus gekauft haben, wo dann der dritte Flügel untergebracht werden kann.

Ich gehe ja gern mal spazieren, aber wenn ich zweimal um eine Ecke gebogen bin, kann ich mich in einem fremden Ort nicht mehr zurechtfinden. Zu Hause übrigens auch nicht. Jedenfalls hatte ich mich in V. hoffnungslos verfranst und sah niemanden, den ich fragen konnte, weil ich quasi in einem Dorf war, wo ja nie ein Mensch auf der Straße ist, weil alle vor dem Fernseh sitzen, um zu gucken, ob gerade ein Nachbar über seine Sexualgewohnheiten erzählt – bis auf einen großen dicken Rollstuhlfahrer. Der wusste auch nicht genau, wo die Finkenstraße ist, aber zeigte mir ungefähr die Richtung. Da fragte ich dann den nächsten Anwohner, einen kleinen, alten Mann auf einem Fahrrad. Der stieg sofort ab, sagte mir, wo ich langgehen sollte und fuhr davon. Da kam mir der Rollstuhlfahrer wieder entgegen, er hätte nachgefragt, und ich solle mal rechts und zweimal links gehen. Kaum war ich in die nächste Straße gewandert, fuhr mir plötzlich der Radfahrer nach, kurvte dann langsam vor mir her und bedeutete mir mit Handzeichen, welche Richtung ich nehmen sollte. Er gab erst Ruhe, als ich direkt vor dem Haus angekommen war. Ich finde, auf dem Land wird sich noch richtig um einen gesorgt.

In Hamburg wieder angekommen, stieg ich aus der S-Bahn und wunderte mich sehr, was sie hier alles innerhalb einer Woche an baulichen Veränderungen geschafft haben. Da war beispielsweise ein Hochhaus mit 14 Stockwerken, das letztens noch nicht da gewesen war. Das brachte mich auf die Idee, dass ich zwei Stationen später ausgestiegen war, als ich eigentlich sollte.