Die alte Mär vom Mückenstich lebt auf

Junge BerlinerInnen stecken sich wieder häufiger mit HIV an. Gründe: zu wenig Wissen und fehlende Angst vor Aids

Sie erinnern sich nicht mehr. Sie kennen die Horrorbilder der 80er-Jahre nicht, die kollektive Panik von damals ist ihnen fremd: Aids hat seinen Schrecken verloren – und das besonders bei jungen Menschen. Das ist das Fazit der Berliner Aids-Hilfe (BAH), die gestern aktuelle Zahlen zu ihrer Arbeit vorgelegt hat.

„Wir haben eine markante Veränderung vor allem in dem Bereich der unter 20- bis 30-Jährigen“, so die ernüchternde Bilanz von Kai-Uwe Merkenich, Geschäftsführer der BAH. Seine Zahlen sind eindeutig: Wurden im vorletzten Jahr nur 0,15 Prozent der Beratungsgespräche – die hauptsächlich von Infizierten in Anspruch genommen werden – mit Menschen unter 20 Jahren geführt, waren es 2002 schon 5 Prozent. Noch deutlicher ist der Anstieg bei der Altersgruppe zwischen 20 und 30: Ließen sich 2001 rund 5 Prozent beraten, waren es im Folgejahr schon 39 Prozent. „Das bedeutet, dass 44 Prozent der Ratsuchenden inzwischen unter 30 Jahre alt sind“, so Merkenich. Bisher lag der Schwerpunkt der Beratungen in der Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren.

Die Gründe für die Verschiebung hin zu jüngeren Betroffenen sind vielfältig: „Wir stellen ein deutlich reduziertes Schutzverhalten gerade bei jungen Menschen fest“, sagt Marianne Rademacher, die als Ärztin in einer Beratungsstelle arbeitet und im Vorstand der BAH sitzt. Dazu komme, dass der Wissensstand immer geringer werde. „Die fragen uns danach, ob sich Aids durch Mückenstiche oder durch die Benutzung öffentlicher Toiletten übertragen kann.“

In Berlin leben rund 7.500 Personen mit HIV oder Aids, rund 100 sind im letzten Jahr an der Immunschwächekrankheit gestorben. Etwa 350 Menschen haben sich 2002 mit dem Virus neu infiziert, bei 150 ist die Krankheit ausgebrochen. Damit ist die Zahl der Neuinfektionen in Berlin relativ stabil.

Dass es so große Wissenslücken hinsichtlich der Übertragungswege von Aids gibt, führen Merkenich und Rademacher auf die unzureichende Präventionsarbeit zurück. „Zum einen werden die finanziellen Ressourcen immer knapper“, so Rademacher. Das bedeute, dass mit immer weniger Mitarbeitern Präventionsarbeit geleistet werden müsse. „Es zeigt aber auch, dass unsere bisherigen Maßnahmen so nicht mehr wirken.“ Man müsse die Angebote deshalb breiter streuen.

Drei Viertel der Betroffenen sind schwule oder bisexuelle Männer. Deshalb liegt das Hauptaugenmerk der BAH trotz des deutlichen Anstiegs bei jungen Menschen immer noch auf dieser Zielgruppe. „Wir haben in Berlin eine große und gut entwickelte schwule Community“, erklärt Merkenich. Aber auch hier sei eine „neue Sorglosigkeit“ zu beobachten. Denn das Bild des Aidskranken hat sich radikal geändert – zumindest in der Öffentlichkeit. Seit komplizierte Medikamentencocktails den Ausbruch der Krankheit und den Tod hinauszögern können, wird Aids zunehmend als „chronische, aber nicht tödliche“ Krankheit wahrgenommen. Was nicht stimmt: Auch seit Beginn dieser Therapiemöglichkeit sind zwei Drittel der Patienten gestorben. „Aids wird in der Öffentlichkeit bagatellisiert“, warnt Merkenich deshalb. Und weist darauf hin, dass lange nicht alle Patienten die Medikamente vertragen.

Dazu kommt, dass Infizierte auch rund 20 Jahre nach der Entdeckung der Krankheit immer noch mit Diskriminierung zu kämpfen haben. „Ärzte, die sich weigern, Infizierte zu behandeln, Probleme am Arbeitsplatz oder gelbe Punkte auf Krankenakten, die Mitarbeitern signalisieren, dass der Patient HIV-positiv ist – all das erleben wir immer noch regelmäßig“, erzählt Merkenich.

Deshalb hat man sich für den Welt-Aids-Tag am ersten Dezember dem internationalen Motto „Ausgrenzung abwehren“ angeschlossen. Und einen eigenen Zusatz hinzugefügt: „Versorgung sichern“ – denn die ausreichende medizinische Versorgung wird mit der Gesundheitsreform, die am 1. Januar in Kraft tritt, zum nächsten Problem der Betroffenen. SUSANNE AMANN