Die Nacht der Drachentöter

AUS TIFLIS KLAUS-HELGE DONATH

„Ga-dad-gi, Ga-dad-gi“, skandiert die Menge, als sei es nicht wahr, was da eben von der Tribüne vor dem Parlament verkündet wurde: Eduard Schewardnadse zurückgetreten. „Tritt ab, tritt ab!“, rufen die Demonstranten dennoch. Niemand will es glauben. Der alte Fuchs verlässt den Bau, ohne dass ein Schuss fällt.

„Ausgestanden“, seufzt die 40-jährige Nina. Seit den manipulierten Wahlen vor drei Wochen hat sie fast Tag und Nacht vor dem Parlament ausgeharrt. „Kmara, kmara“ – „es reicht!“, schwellen noch einmal die Sprechchöre an, die dann in ein jubelndes „Sar-ka-telo!“ übergehen; so heißt Georgien in der Landessprache. Nun ist es kein Schlachtruf mehr, nur noch eine Liebeserklärung an die Heimat. Die ganze Nacht klingt die Melodie durch Tiflis’ Straßen.

Die Georgier verstehen es, zu feiern, und inzwischen auch, Umstürze zu inszenieren. Die letzte Revolte gegen einen gewählten Präsidenten entfachte noch einen Bürgerkrieg, übrig blieb ein amputierter Rumpfstaat. Die Schwarzmeerrepublik Abchasien führt seither ein Eigendasein unter russischem Einfluss. Die Abchasen sprechen eine eigene Sprache und sind muslimisch, tausende Georgier sind aus dem abtrünnigen Staat geflohen. Südossetien, entlang der georgischen Heerstraße und Adscharien an der Küste zur Türkei machen auch, was sie wollen.

Feiertag und viel Symbolik

Vor der georgisch-orthodoxen Kaschueti-Kirche dem Parlament gegenüber zünden Demonstranten vor der Ikone des heiligen Georg, des Drachentöters, hunderte von Kerzen an. Den 23. November feiern die Georgier auch als Tag des heiligen Georg, der dem Land den Namen gab. Fast ein bisschen viel der Symbolik. Auf den Straßen taumelt die Menge, Jugendliche hüllen sich in die Fahnen aus roten Kreuzen vor weißem Grund, das alte Symbol Georgiens, das der Widersacher des Präsidenten, Michail Saakaschwili, mit Bedacht zur Fahne seiner Partei, der „Nationalen Bewegung“, erkoren hat. Für die meisten Demonstranten ist Georgiens neuer starker Mann ein Hoffnungsträger, der dritte in einem Jahrzehnt. Der Taktiker, der in den USA studierte, hat den Fuchs Schewardnadse überlistet, dafür wird er bewundert, auch von jenen, die nicht zu seinen Parteigängern zählen.

Nodar, ein arbeitsloser Ingenieur, hält viel auf „Mischa“ wie ihn die Menge zärtlich nennt. Dennoch hat er Vorbehalte. „Er ist ein genialer Taktiker, aber ihm fehlt Feingefühl“, meint er nachdenklich. Nodar, wie wohl die meisten Vertreter der georgischen Intelligenz, wird bei den nächsten Wahlen für Nino Burdschanadse stimmen. Die 39-jährige Anwältin hat die Rolle des amtierenden Präsidenten übernommen. „Und sie macht ihre Sache gut“, sagt der Ingenieur anerkennend. Sie sei einfach „kulturvoll“. In der Welt der georgischen Machos zu überleben setzt Härte voraus. Als Nino Burdschanadse gegen zwei Uhr nachts vor die Presse tritt, gibt sie sich keinen Anschein von Müdigkeit.

Ganz anders die Sicherheitskräfte im Parlament. Sie scheinen zumindest siegestrunken zu sein. Mit etwas Glück gelingt es jedem, an die neue politische Führung auf Tuchfühlung heranzukommen. Auch Saakaschwili eilt, umgeben von Leibwächtern, umher und schüttelt Hände. Danach steigt er in das Bad in der Menge, die ihn in wenigen Wochen groß gemacht hat.

Die Georgier lieben Lichtgestalten, lassen sich auch blenden. „Meine Freunde, wir sind eine Siegernation“, hat er nach der Abdankung Eduard Schewardnadses dem Volk entgegengerufen. „Das wird sich noch zeigen“, bemerkt der Ingenieur Nodar. Die besonnene, nachdenkliche Burdschanadse war zu Verhandlungen mit Schewardnadse bis zum Schluss bereit. Anders Saakaschwili, der sich in der Öffentlichkeit unbeugsam zeigte. Er kannte den Gegner sehr gut, bis vor zwei Jahren war er in seinem Kabinett Justizminister. Jahrelang hatte er zur Korruption, die alle gesellschaftlichen Bereiche infiziert hatte, geschwiegen. Dann machte er sie zu seinem Thema und verzichtete auf die Regierungsgewalt. Das wirft Fragen auf. Ist der 23. November wirklich die Geburtsstunde des neuen Georgien, wie Saakaschwili der Menge versprach? Auf jeden Fall war es nach Jahren im von ethnischen Konflikten und Clanstreitigkeiten zerrissenem Land endlich mal wieder eine Nacht der Harmonie. Doch auch die Großfamilien feierten und schickten ihre Vertreter sogleich ins Parlament. Die Vetternwirtschaft wird auch unter den neuen Mächtigen wichtigster Faktor bei der Postenverteilung sein.

Dennoch: Im Vergleich zum blutigen Umsturz des ersten frei gewählten Präsidenten Swiad Gamsachurdias zum Jahreswechsel 1991/1992 verlief diesmal alles friedlich, die neuen Machthaber geben sich zivil und tragen keine Waffen.

Noch herrscht Einigkeit. „Wer auch immer Schewardnadses Nachfolger wird, schlimmer kann es nicht mehr werden“, meint eine Lehrerin. Die Ablehnung des Präsidenten teilen so gut wie alle. Selbst die Sicherheitsdienste verweigerten dem ehemaligen sowjetischen Außenminister den Befehl.

Während der ganzen Zeit des Protestes hatten georgische TV-Stationen über das Treiben der Opposition berichtet. Nur noch ein Sender hielt dem Präsidenten die Stange. Das Regime war zwar korrupt, die Pressefreiheit blieb indes mehr oder weniger erhalten.

Bei Schewardnadses Rücktritt hatten auch die Russen die Finger im Spiel. Außenminister Igor Iwanow vermittelte zwischen dem strauchelnden Präsidenten und Saakaschwili. Die Menge dankte es ihm mit kräftigem Beifall. Die Hälfte seines Herzens schlage in Georgien, hatte er vorher im Fernsehen gesagt. Seine Mutter wuchs am Fuße der kaukasischen Bergkette auf. Die Demonstrantin Naina findet das gut. Wie viele in der Menge kommt die 50-Jährige ursprünglich aus Abchasien und möchte gerne in ihre Heimat zurückkehren. Doch noch stehen dort russische „Friedenstruppen“, die an einer Normalisierung in der Region kein ausgemachtes Interesse haben. Die Autonomien sind der Hebel, mit dem Moskau Tiflis jederzeit aus der Balance werfen kann. Ändert Russland diesen Kurs? Daran glaubt Naina nicht, aber sie ist überzeugt, dass sich Abchasiens und ihr eigenes Schicksal unter Saakaschwili ändern werden. „Vor Schewardnadse hatten die Abchasen Angst, Saakaschwili fürchten sie!“ Heißt das wieder Krieg? Sie zuckt die Achseln. „Wir gehen auf jeden Fall zurück“.

Genau das hat Saakaschwili seiner Anhängerschaft, die sich aus den 200.000 am Rande der Gesellschaft vegetierenden Flüchtlingen rekrutiert, versprochen. Schon äußerlich fallen sie durch ärmliche Kleidung auf. „Ein Waffengang wäre das Ende unseres Staates“, meint Nodar, der Ingenieur. Dass die Amerikaner, die Saakaschwili in den letzten Tagen offen gegen Schewardnadse unterstützt haben, dem neuen Mann dafür einen Freibrief erteilen, hält der Ingenieur indes für unwahrscheinlich. „Sie werden sich unseretwegen nicht mit den Russen anlegen.“

Ideologie eines Großgeorgiens

Die Gefahr eines Flächenbrandes besteht aber, wenn auch die neuen Machthaber damit scheitern, Wirtschaft und Staat zu sanieren. Das Zündeln mit ethnischen Konflikten hat im Kaukasus Tradition, und Saakaschwili ist der erste ernst zu nehmende Politiker und Ideologe eines „Großgeorgiens“. Sie träumen von mehr als einem Staat in den bisherigen Grenzen: Georgien als eine Vormacht, die auch den kaukasischen Süden Russlands umfassen könnte.

Am nächsten Morgen geht die Hauptstadt wieder dem normalen Leben nach. Nino Burdschanadse wird in dieser Woche die Termine für Neuwahlen bekannt geben. Nodar ist skeptisch: Die Opposition hat es vor den Novemberwahlen nicht geschafft, eine gemeinsame Linie zu verfolgen. Warum soll es ihr nun gelingen? Dann versinken seine Worte in einem ohrenbetäubenden Hupkonzert auf dem Rustaweli, dem Prachtboulevard von Tiflis. Heute ist Karneval.

Der alte Präsident ist unterdessen gegangen und hat so getan, als wäre die friedliche Revolte nur eine Episode gewesen: „Ich gehe jetzt nach Hause und schreibe meine Memoiren“, hat Schewardnadse gesagt. „Nehmt ihn zu euch nach Deutschland, für uns hat er nichts getan!“, ruft jemand aus der Menge.