Eine sentimentale Reise

THE GAME, das traditionelle Match zwischen den Football-Teams der Elite-Universitäten Harvard und Yale, ist für viele Ehemalige vor allem Gelegenheit zu einem feuchtfröhlichen Klassentreffen

„Mein Hass auf Harvard ist größer als meine Gleichgültigkeit für Football“

AUS NEW HAVEN SEBASTIAN MOLL

Es ist Samstagfrüh um zehn und in der neu-englischen Kleinstadt New Haven ist der Verkehr zusammengebrochen. Auf den drei Kilometern vom Universitätscampus hinaus zur Yale-Bowl, dem Stadion der ortsansässigen Elite-Hochschule, stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Schon seit dem frühen Morgen haben tausende von Fahrzeugen – vom VW-Käfer bis zum Dreitonner – auf den Parkplätzen rund um das Stadion die Heckklappe heruntergelassen und den Grill ausgepackt. Studenten, Ehemalige und Honoratioren stehen in Jeans und Polohemd inmitten dichter Schwaden von Hamburger-Dunst und gehen, der Tageszeit ungeachtet, wacker ihre umfangreichen Vorräte an Alkoholika verschiedenster Sorte an. „Das ist der einzige Tag im Jahr, an dem es in Yale zugeht wie an einem ganz normalen College“, erklärt John, Rechtsanwalt und Yale-Abgänger von 1990. John ist wie jedes Jahr aus seinem Wohnort Charleston in West Virginia angereist, denn heute spielt Yale gegen Harvard.

An jedem anderen College ist zu jedem Heimspiel der Football-Mannschaft die gesamte Studentenschaft auf den Beinen. In Yale, Alma Mater des derzeitigen sowie zahlreicher früherer Präsidenten und traditionelle Brutstätte der Führungs- und Machtelite des Landes, interessiert man sich gemeinhin nicht besonders für Sport. Nur einmal im Jahr, wenn auf dem Spielfeld symbolisch die Rivalität um die Akademie Nummer eins der USA mit Harvard ausgetragen wird. THE GAME wird das jährliche Aufeinandertreffen genannt, in Großbuchstaben, denn für die Absolventen der beiden Anstalten gibt es nur dieses Spiel. In den streng calvinistischen Schulen Yale und Harvard sowie ihren Schwestern Princeton, Cornell, Brown, Rutgers und Dartmouth – allesamt weit älter als die Vereinigten Staaten – war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein jegliche Form der körperlichen Betätigung verpönt. Ballspiele auf dem Campus waren geheim und wild und endeten nicht selten in Massenraufereien.

Die Studentengeneration der Bürgerkriegsveteranen Ende der 1860er-Jahre ließ sich ihr Vergnügen jedoch von den Universitätsoberen nicht mehr verbieten. Und so spielte 1869 erstmals offiziell Princeton gegen Rutgers ein Spiel, das entfernt etwas mit dem heutigen Football zu tun hatte. 1875 erweiterten Yale und Harvard, die sich schon lange im Baseball und Rudern aneinander rieben, erstmals ihre Rivalität um den neuen Sport. Es war von Anfang an ein Publikumshit – 2.000 Studenten versammelten sich zum Spiel, und in der Nacht danach hatten die Gendarme von New Haven alle Hände voll zu tun, die betrunkenen Spieler und Fans beider Universitäten im Zaum zu halten.

Bei der Premiere hatte allerdings viel Verwirrung auf dem Spielfeld geherrscht, das hastig improvisierte Regelwerk war niemandem so richtig klar. Yales’ Auffassung war mehr an den europäischen Fußball angelehnt, Harvard wollte ein neues Spiel spielen, das eher dem britischen Rugby glich. Erst um 1880 herum einigte man sich auf die Regeln, die bis heute das Fundament des American Football bilden.

Nahezu bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmten die Eliteuniversitäten des Ostens den American Football, obwohl 1922 die erste Profiliga gegründet wurde. Die Yale Bowl, das Stadion in New Haven, das 1919 gebaut wurde, ist das ehrwürdige, wenn auch modrige Symbol dieser großen Zeit. 70.000 Zuschauer passen hinein, und in den 20er- sowie 30er-Jahren war sie stets ausverkauft. Heute verirren sich zu normalen Heimspielen der Yale Bulldogs höchstens einmal 12.000 Menschen hierher, auch wenn der Universitätscampus nur eine Viertelstunde zu Fuß entfernt und der Eintritt kostenlos ist. Die Entwicklung des College-Sports ist an den alten Traditionsschulen vorbeigegangen. Durch ihre Weigerung, Studenten mit Sportstipendien zu locken, durch die rigorosen akademischen Anforderungen, die hier auch an Sportler gestellt werden, haben sich Yale, Harvard und andere bewusst für die Drittklassigkeit entschieden.

Heute füllt nicht einmal THE GAME mehr die gesamte Bowl. Zur ersten Halbzeit sind die Hälfte der Plätze leer, obwohl sicherlich 100.000 draußen an ihren Fahrzeugen feiern. In der Halbzeitpause werden dann immerhin 50.000 Zuschauer gezählt.

Doch die kommen vor allem, um am traditionellen Halbzeitritual teilzunehmen. Jede der beiden Universitäten bekommt für zehn Minuten das Spielfeld, um kreativ den Erzfeind zu diffamieren: Das Wappentier Yales, die Bulldogge, wird von der Schulkapelle Harvards zum Schaffott getragen, und ein Yale-Romeo wird in einer Shakespeare-Variation durch Kommilitonen erfolgreich von seiner Harvard-Julia geheilt.

Viele ehemalige Studenten, die von einem langen Feiertag ermattet und mit glasigen Augen abends am Bahnhof von New Haven die Heimreise antreten, fragen noch Stunden nach dem Abpfiff, wer denn eigentlich gewonnen hat. Und das Ergebnis von 31:19 für Harvard wird meist nur durch ein Achselzucken zur Kenntnis genommen. THE GAME ist schon lange nicht mehr die Hauptattraktion des Tages. „Vor 25 Jahren war das Spiel noch wichtig“, erinnert sich Doug, Yale-Abgänger von 1974. „Da gehörten wir noch zu den besten zehn Colleges des Landes.“ Mittlerweile geht es nur noch, wie die Yaler Studentenzeitung schreibt, um die „Bragging-Rights“ – das Recht, ein Jahr lang zu prahlen und sich der anderen Universität überlegen zu fühlen. „Mein Hass auf Harvard ist größer als meine Gleichgültigkeit für Football“, hat sich ein Student auf das T-Shirt gedruckt.

Vor allem aber ist THE GAME ein gigantisches Klassentreffen. Jeder Student in Yale wohnt in einem von zwölf Colleges, zwölf Häusern, die seit Jahrhunderten bestehen. Und jeder der Ehemaligen, die zum Spiel kommen, wird danach selbstverständlich in sein altes College eingeladen, um alte Kommilitonen zu treffen und die Studenten, die jetzt dort wohnen, kennen zu lernen. „Das ist jedes Jahr eine sentimentale Reise für mich“, meint John. Für einen Tag können die Männer und Frauen in die leicht verschrobene Bildungskultur zurückkehren, die sie zur Führungselite geformt hat. Zu dieser Kultur gehört die ritualisierte Rivalität mit der anderen großen Eliteschmiede. Am nächsten Tag, an der Wall Street oder in Washington, fördert das Gespräch über THE GAME indes das Bewusstsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Kaste mit ihren eigenen exzentrischen Gebräuchen und ihrer eigenen Sprache – egal ob man in Yale oder Harvard studiert hat.