ARBEITNEHMER
: Gewerkschaften – das unbekannte Wesen

Früher war die Welt noch in Ordnung. Papa ging morgens zur Arbeit, Mama versorgte die Kinder. Am Wochenende gehörte Papa den Kindern – sobald das Auto gewaschen worden war. Man genoss den zunehmenden Wohlstand. Die Welt schien bei allen Problemen überschaubar. Wenigstens kommt es einem heute so vor. Man wusste aber auch, wem man das zu verdanken hatte. Nicht Ludwig Erhards Wirtschaftswunder, sondern vor allem den Gewerkschaften, die den Wohlstand erst für alle erkämpfen mussten.

Unter diesen Bedingungen war das Thema Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland eine Erfolgsgeschichte. Aus der Arbeiterklasse waren Arbeitnehmer geworden und aus den bekämpften Gewerkschaften gleichberechtigte Partner im Modell Deutschland. Deren Bedeutung reichte weit über den politischen Sektor hinaus. Das Lebensgefühl und Selbstverständnis der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ist in weiten Teilen von ihnen bestimmt worden. Wer die Bundesrepublik kennen lernen wollte, musste sich mit den Gewerkschaften beschäftigen. Viele Achtundsechziger kritisierten das als die Verbürgerlichung der Arbeiterklasse. Sie ignorierten den historischen Fortschritt gleichberechtigter Teilhabe. Einer ihrer bedeutendsten Irrtümer.

Heute ist die Sichtweise auf die Erfolgsgeschichte aber selbst schon wieder historisch geworden. Wer daran noch einen Zweifel gehabt haben sollte, sei auf das von Wolfgang Schroeder und Bernhard Weßels herausgegebene Handbuch zur aktuellen Lage der Gewerkschaften verwiesen. Am Anfang war das Staunen – wie die Herausgeber in ihrem Vorwort feststellen: „Gleichwohl kommen Politik und Öffentlichkeit häufig zu einem raschen Urteil, bei dem der Eindruck entsteht, dass die Gewerkschaften für sie ein unbekanntes Wesen sind.“ Es wisse zwar jeder, dass sie über den Tarifstreit für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen sorgten. „Aber schon die Frage, wie sie dies machen, wird von vielen Zeitgenossen mit einem Achselzucken beantwortet.“ Das wäre vor dreißig Jahren noch anders gewesen.

Besser kann man den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften nicht ausdrücken. Sie haben in weiten Teilen ihre gesellschaftsprägende Funktion verloren. Das zeigt sich nicht nur in den sinkenden Mitgliedszahlen, wie es in der Öffentlichkeit zumeist diskutiert wird. In den industriellen Kernen wie im Automobilbau oder der Chemieindustrie sind sie immer noch gut verankert. Das Problem der Gewerkschaften ist die bis heute misslungene Anpassung an den Strukturwandel in Richtung der alten und neuen Dienstleistungssektoren. Sie haben bis heute keine eigenständige Lösung gefunden.

Der Druck der Neoliberalen in Zeiten der Globalisierung ist dabei nur die halbe Wahrheit. Zweifellos hat er die Handlungsmöglichkeiten reduziert. Von höheren Löhnen oder besseren Arbeitsbedingungen ist gegenwärtig selten die Rede. Aber das Bedürfnis der Menschen nach sozialer Sicherheit und angemessenen Arbeitsbedingungen verstärkt sich in dieser Situation eher, als dass es geringer wird.

Gleichwohl können die Gewerkschaften daraus noch keinen Nutzen ziehen. Sie zerreiben sich in Abwehrschlachten, statt offensiv ihren Gestaltungsanspruch durchzusetzen. Dafür gibt es vor allem eine Erklärung: Zu viele Menschen finden offensichtlich ihren Anspruch auf ein besseres Leben in den Gewerkschaften nicht mehr repräsentiert. Das mindert deren politische Durchschlagskraft – und lässt sich wohl auch durch Bündnisse mit Attac nicht dauerhaft kompensieren. Erst wenn sie das ändern, können Gewerkschaften auch politisch wieder in die Offensive kommen.

Der Neoliberalismus ist eine echte Herausforderung. Man verharmlost ihn aber, wenn man ihn zur Kaschierung eigener Defizite missbraucht. Den großen Plan, wie aus aktueller Schwäche neue Stärke werden kann, findet man in dieser Aufsatzsammlung auch nicht. Aber er ist eine schonungslose Bestandsaufnahme.

Das ist schon viel wert.

FRANK LÜBBERDING

Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels: „Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch“. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003, 48 Euro