Türkei durch Attentate geschockt

Beobachter gehen davon aus, dass die langjährige gute Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Israel das entscheidende Motiv für den Anschlag war

Die Gemeinde in der Beth-Israel-Synagoge feierte Bar Mizwa, als die Autobombe explodierteDie Anschläge wurden laut Polizei mit einer Tonne selbst gemischtem Sprengstoff durchgeführt

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Wir haben noch nie einen solchen Knall gehört. Alle Fensterscheiben zersplitterten, und unsere Wohnungstür wurde von der Druckwelle aus den Angeln gerissen.“ Erschöpft und immer noch fassungslos steht das Ehepaar Kasimoglu vor der Polizeiabsperrung in Sichtweite der Synagoge in Sisli. „Wir haben den Fehler gemacht, unsere Wohnung zu verlassen, jetzt kommen wir nicht mehr hinein.“ Weiträumig hat die Polizei den Ort des Anschlages abgesperrt. Der erste Horror nach der gewaltigen Erschütterung ist vorbei. Die Toten sind geborgen, hunderte Verletzte wurden in die umliegenden Krankenhäuser transportiert. Jetzt suchen in weiße Overalls gekleidete Spezialisten nach Spuren inmitten einer Trümmerlandschaft.

Die Straße im gutbürgerlichen Istanbuler Stadtteil Sisli ist über mehrere hundert Meter verwüstet. Die Kasimoglus wohnen drei Häuser von der Beth-Israel-Synagoge entfernt, die sich unauffällig in die Häuserzeile einfügt. Als am Sabbatmorgen um 9:30 die Autobombe vor der Synagoge hochging, feierte die Gemeinde gerade ein großes Fest. Anlässlich der Bar Mizwa, bei der der 13-jährige männliche Nachwuchs feierlich in die Gemeinde aufgenommen wird, predigte Oberrabiner Isak Haleva vor der Prominenz der jüdischen Gemeinde Istanbuls. Plötzlich brach das Inferno aus. Durch die Druckwelle der Explosion stürzte die Decke der Synagoge ein. Fünf Menschen starben, etliche wurden schwer verletzt, darunter der Sohn des Oberrabiners, dem Glassplitter das Gesicht zerfetzten.

Noch verheerender als in Sisli wirkte die zeitgleich gezündete zweite Autobombe vor der Synagoge Neve Shalom im historischen Galata-Viertel unweit des bekannten Genueserturms. In der engen Gasse stürzten Gebäude ein, parkende Autos wurden zertrümmert und die Druckwelle verwandelte noch in mehreren hundert Meter Entfernung Schaufensterscheiben in tödliche Splittergeschosse. Nach einem Angriff vor 17 Jahren, als ein palästinensisches Killerkommando ebenfalls an einem Sabbat in die Synagoge eindrang und mit Handgranaten und Maschinenpistolen 24 Menschen ermordete, waren die Sicherheitsvorkehrungen an der Istanbuler Hauptsynagoge drastisch verschärft und die Außenfassade baulich verstärkt worden. Deshalb wurde von der zur Bar Mizwa versammelten Gemeinde im Gebäude niemand getötet, lediglich ein Posten vor der Tür starb. Umso schlimmer traf es die Anwohner der Straße.

Von den insgesamt 23 Toten starben die meisten in der engen Gasse am Turm. Völlig erschüttert stochern noch Stunden später Ladenbesitzer in den Trümmern ihrer Habe herum. In der Gasse hätten überall Leichenteile herumgelegen, berichten sie, einige vermissen noch Angehörige oder Freunde. Am Samstagabend sind noch nicht alle verstümmelten Leichen identifiziert. Auch über den Hergang des Attentats herrscht noch keine völlige Klarheit. Während es einmal heißt, Selbstmordattentäter hätten sich mit den Autos in die Luft gesprengt, wird auch berichtet, dass eine Videokamera an der Fassade von Neve Shalom zeige, wie ein Mann den weißen Kleintransporter verlässt, der kurz darauf mit einer halben Tonne Sprengstoff in die Luft fliegt. Am Sonntag teilte die Polizei mit, die beiden Terroranschläge seien mit rund einer Tonne desselben Sprengstoffgemischs aus Phosphatverbindungen verübt worden. Es habe sich nicht um militärischen Sprengstoff oder industrielles TNT, sondern um eine selbst hergestellte Mischung gehandelt.

Die beiden Anschläge wirkten umso schockierender, als niemand in der Türkei mit einer Terrorattacke dieses Ausmaßes gerechnet hatte. Vor allem nachdem die türkische Regierung sich vor gut einer Woche endgültig von ihrem Vorhaben, selbst Truppen in den Irak zu schicken, verabschiedet hatte, kam der Angriff wohl auch für die Sicherheitskräfte überraschend. Zwar berichtete Oberrabbiner Isak Haleva von Drohungen gegen die Gemeinde, und auch einfache Gemeindemitglieder erzählten, es hätte mehrfach telefonische Drohungen und Warnungen gegeben. Doch niemand vermutete einen Angriff auf die Bar-Mizwa-Feiern.

Obwohl die Polizei die noch am Samstag eingegangene Selbstbezichtigung der islamischen Terrorgruppe IBDA-C, zu deutsch „Front der Vorkämpfer für den großen islamischen Osten“ als unglaubwürdig bezeichnete, müssen doch Kenner der Istanbuler Verhältnisse beteiligt gewesen sein. So wussten die Attentäter offenbar, dass die Hauptfeier an diesem Sabbat in der Beth-Israel-Synagoge in Sisli stattfand. Innenminister Aksu bekräftigte jedoch noch am späten Samstagabend, dass es keine türkische Terrorgruppe gebe, die allein in der Lage wäre, ein Attentat dieser Dimension durchzuführen.

Sowohl Außenminister Gül als auch Ministerpräsident Erdogan, der Samstagnacht an den Tatort eilte, gaben sich überzeugt, dass der Anschlag einer internationalen Terrororganisation wie al-Qaida zuzuschreiben ist. In der Nacht zu Sonntag nahm die Polizei drei Personen im Zusamenhang mit den Attentaten fest. Noch am Samstag traf eine größere Gruppe israelischer Polizisten und Geheimdienstleuten in Istanbul ein, um die Untersuchung zu unterstützen. Am Sonntag folgte dann der israelische Außenminister Silwan Schalom, der die Tatorte besichtigte und mit seinem Kollegen Abdullah Gül zusammentraf.

Die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass die langjährige gute Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Israel das entscheidende Motiv für den Anschlag war. Die Türkei ist nicht nur eines der wenigen überwiegend muslimischen Länder, das diplomatische Beziehungen zu Israel unterhält, es gibt auch eine enge militärische Kooperation zwischen beiden Ländern. Der Terroranschlag, sagte Ministerpräsident Erdogan, sei ein Anschlag auf die Menschlichkeit, die Stabilität und den Frieden in der Türkei.