Das Augapfel-Studio

Unfreiwillig brachte die Fotografin Liselotte Grschebina die Neue Sachlichkeit nach Palästina. Eine Retrospektive im Gropius-Bau

VON ACHIM DRUCKS

Ein Lebenswerk im Wandschrank: Sechs Jahre nach ihrem Tod 1994 entdeckt Beni Gjebin den künstlerischen Nachlass seiner Mutter, der Fotografin Liselotte Grschebina. Völlig unbeachtet lagerten die Negative und 1.800 Abzüge in ihrem Haus in Tel Aviv. Die Negative landen im Müll, die Fotos schenkt er dem Israel Museum in Jerusalem.

Ein repräsentativer Querschnitt ist jetzt im Martin-Gropius-Bau zu sehen. Rund 100 Vintage Prints, thematisch gehängt, dokumentieren die wechselvolle Karriere der 1908 geborenen Kaufmannstochter: Die Anfänge in ihrer Heimatstadt Karlsruhe, wo sie an der Landeskunstschule von progressiven Strömungen wie der Neuen Sachlichkeit beeinflusst wird. Die Zeit als Werbefotografin mit eigenem Studio. Ihre Arbeiten, die nach der Emigration 1934 in Palästina entstehen. Den Versuch, sich als professionelle Fotografin in Tel Aviv zu behaupten.

Die junge Stadt bietet Grschebinas von der modernistischen Ästhetik geprägtem Blick eine Unmenge von Motiven. Die dortige Bauhaus-Architektur inspiriert sie zu einigen ihrer stärksten Bilder. Die Metalltreppe an einer der weißen Hausfassaden nimmt sie aus extremer Untersicht auf und betont so die strengen geometrischen Formen der Konstruktion.

Auch die noch in Deutschland entstandenen Aufnahmen reflektieren Grschebinas Auseinandersetzung mit aktuellen künstlerischen Tendenzen und Techniken. So arbeitet sie bei ihren Reklamebildern häufig mit Fotomontagen. Ihre Studien von Stoffen, Federn oder Masken kennzeichnen scharfe Diagonalen, Spiegelungen und ungewöhnliche Perspektiven. Typische Elemente des Neuen Sehens, einer Stilrichtung, mit der etwa László Moholy-Nagy die Bildsprache der Fotografie dynamisierte, um neue Sichtweisen auf vertraute Motive zu eröffnen. Auch das Interesse an der Welt des Theaters, an Selbstinszenierungen und Puppen teilt sie mit zahlreichen Künstlern der Zeit. Neben dezent surrealen Studioporträts entstehen auch Bewegungsstudien von Leichtathletinnen, die wie beim Ausdruckstanz über Wiesen schweben – Vorstudien zu den Aufnahmen von Speerwerfern oder Kugelstoßern, die 1937 in Palästina entstehen. Auf den ersten Blick besitzen sie eine starke Nähe zu Leni Riefenstahls Olympia-Bildern. Beide fotografieren aus der Untersicht, um ihre Protagonisten heroischer wirken zu lassen. Doch Grschebinas Inszenierung ist wesentlich moderner. Ihre Sportler wirken menschlicher, stehen in Trikots vor hellen Hintergründen, sind in der Gegenwart verortet. Bei Riefenstahls nackten Kraftpaketen lugt dagegen stets die Antike um die Ecke und dramatische Wolkenformationen müssen für das gewünschte Pathos sorgen.

Eigentlich versucht Grschebina, sich in Tel Aviv als Spezialistin für Kinderporträts zu etablieren – aber die Konkurrenz ist hart. Zu den ansässigen Fotografen stoßen immer mehr Kollegen, die vor dem Naziterror geflohen sind. 1934 eröffnet sie zusammen mit Ellen Auerbach, einer Freundin aus Karlsruhe, das Studio „Ishon“ – hebräisch für „Augapfel“ oder „kleiner Mann“. Auch Auerbach – in Berlin betrieb sie Anfang der Dreißiger gemeinsam mit Grete Stern „ringl + pit“, ein für seine avantgardistischen Werbeaufnahmen bekanntes Atelier – ist eine Vertreterin der fotografischen Moderne.

„Ishon“ liegt in einer der lebendigsten Straßen der Stadt, der Allenby Road mit zahlreichen Cafés, Kinos und Geschäften. Von Grschebinas kommerziellen Kinderbildern ist allerdings kaum etwas übrig geblieben. Sie dienten wohl ausschließlich dem Broterwerb und besaßen für sie keinen weitergehenden Wert. Schon 1936 muss das Studio wieder schließen, denn wegen der arabischen Aufstände geht Auerbach nach London. Von da an nutzt Grschebina ihre Küche als Dunkelkammer.

In der neuen Heimat beschäftigt sich die Fotografin viel häufiger als in Deutschland mit dem Alltagsleben, zeigt die Arbeit in den Fabriken und Kibbuzim, aber auch Menschen in den Straßen. Sie dokumentiert eine Gesellschaft im Aufbau, in der die Gesichter der Einwanderer von den Schrecken der Vergangenheit gezeichnet sind, aber dennoch Optimismus ausstrahlen. Zusammen ergeben ihre Aufnahmen ein völlig unpathetisches Bild des im Entstehen begriffenen Staates Israel, in dem viele Gegensätze aufeinanderprallen: Die Jemenitin im traditionellen Gewand, die an ihrer Wasserpfeife zieht, begegnet einer Society Lady, die sich ihre Eden-Zigarette elegant an einer Kerze anzündet. Die Welten, die zwischen ihnen liegen, hat Grschebina immer wieder festgehalten. In den späten 1950ern hört sie auf, professionell zu fotografieren und arbeitet in der gynäkologischen Klinik ihres Mannes. Die letzten erhaltenen Aufnahmen von einem Urlaub in Griechenland belegen, dass Liselotte Grschebina auch als „Amateurin“ nichts von ihrem Blick für Formen und Strukturen eingebüßt hat: Die Treppen eines Amphitheaters setzt die Fotografin 1962 genauso kühl-elegant in Szene wie sie 1930 einen schnöden Stapel Holzlatten in eine minimalistische Skulptur verwandelt hatte.

Bis 28. Juni, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, täglich 10–20 Uhr, Katalog 12 €