Achtung, Kommilitonen!

Mit Aufbruch hatte der Semesterstart wenig zu tun. So eifrig die Hochschulpolitik auch Elite-Unis oder Namen à la „University of“ kopiert – mit dem Glimmer amerikanischer Openings kommt sie nicht mit

„Schauen Sie sich Ihren Nachbarn gut an – Sie sehen ihn wahrscheinlich nach dem Vordiplom nicht wieder“

AUS ERLANGEN-NÜRNBERG UND DURHAM, USA, FLORIAN HÖHNE

Als Erstsemester und als BWLer verkleidet mische ich mich in das Gedränge im fensterlosen Waschbetonhörsaal der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. An der Friedrich-Alexander-Universität begrüßt man uns gut gelaunt und nüchtern, freundlich, aber realistisch. Manche Studienanfänger sitzen in kleinen Gruppen und quatschen, viele sitzen allein und schauen Löcher in die Luft. Oberbürgermeister Ulrich Maly plauscht mit Professoren, über dem murmelnden Durcheinander will eine Powerpoint-Präsentation suggerieren: Wir, die Friedrich-Alexanders, sind toll und groß und elitär.

Auch vor einem Jahr in Duke war Gemurmel in der riesigen, bis zum letzten Platz besetzten Duke-Chapel – bis es donnernder Orgelmusik wich. Die Zelebranten der Opening Convocation erheben sich. Mitarbeiter und Professoren ziehen in feierlichen Talären ein, allen voran die Studentenvertreter. The President of the University, Nannerl O. Keohane, schließt den Zug ab. Nun schmettert die Orgel das „Star-Spangled Banner“. In den Reihen vor und neben mir legen sie die Hand aufs Herz, während mir meine vergangenheitsbewältigende Schulbildung einen kalten Schauer schenkt. Nachdem das „land of the free and home of the brave“ verklungen ist, lauschen die Studierenden andächtig der Begrüßungsrede. Dann wieder Reden in der stillen, heiligen Halle, gefolgt vom letzten Lied, der Alma Mater, zu Ehren der Stifterfamilie der Uni: den Dukes, die mit Elektrizität und American Tobacco reich wurden.

Derartig hat sicher noch keiner den guten Alexander und den guten Friedrich besungen, die vor gut 260 Jahren die Erlanger Universität gründeten. Wo die Liturgie der amerikanischen Eröffnung den Studenten zum Teil eines großen Ganzen macht – zuerst zum Teil der Nation USA unter Gott durch die Hymne und das Kirchenlied, dann zum Teil der Universität mit der Alma Mater – dort steht in Deutschland nüchterne, realistische Reflexion: Eine Prorektorin der Uni, Renate Wittern-Sterzel, spricht über den Studienanfang als Eintritt in eine neue Lebensphase – und über Hochschulpolitik in Deutschland.

Wie der amerikanische Enthusiasmus leicht in Kritiklosigkeit und Gruppenzwang kippt, so ist der hiesige Realismus dicht gebaut an demotivierendem Zynismus und Pessimismus. Noch während der nachmittäglichen, zentralen Veranstaltung in Erlangen sprachen einige der angehenden Betriebswirte über die Drohungen, die ihnen der Studienfachberater BWL am Vormittag überbracht hatte: „Schauen Sie sich Ihren Nachbarn gut an“, soll der gesagt haben, „mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit sehen Sie ihn nach dem Vordiplom nicht wieder.“

Das hätte er nie gesagt, betont er. Und fügte lakonisch hinzu: „Aber es stimmt.“ Zu jeder erwähnten Prüfung sagte der Studienberater die Durchfallquote dazu, beklagte sich über die viel zu lange Durchschnittsstudienzeit von 11,6 Semestern und empfahl künftigen Studienabbrechern, möglichst rechtzeitig aufzuhören, „damit Sie nicht so viel Steuergelder verschwenden“ – Ermutigung für Erstsemester.

Dagegen in den USA das andere Extrem. Dort wird Grading-Inflation zunehmend zum Problem: Die Note A für 1 wird mancherorts so häufig vergeben, dass sie völlig an Wert verliert und ein B für 2 schon vernichtende Kritik bedeutet. Die größere Herausforderung ist gerade an den Eliteunis weniger, sich an der Uni zu halten, sondern vielmehr, überhaupt dorthin zu kommen. Während der Einführungsveranstaltungen in Duke erzählte man uns nicht nur, wie toll und renommiert Duke sei, sondern auch, dass wir jetzt Teil von diesem tollen Duke seien und damit sicher zu den intelligentesten und begabtesten unserer Jahrgänge gehörten.

Professoren loben ihre Studierenden in den höchsten Tönen und unterbrechen Redepausen der Lernenden gerne mit: „Go on, go on, that's great“ – als könnten sie ihre Studenten anfeuern wie Sportler. Wer von Fleiß und Leistung amerikanischer Studenten schwärmt, sollte das nicht vergessen.

In Erlangen schwärmt die Prorektorin in ihrer Rede eher von der studentischen Freiheit, sich zu bilden. Aber: „Sie sind verantwortlich für sich selbst. Ihre Umwelt bahnt Ihnen den Weg nicht mehr. Sie sind jetzt am Steuer Ihres Lebens. Niemand wacht über Ihre Lernfortschritte.“

Die Einführungsveranstaltungen in Duke führten in alle Aspekte des studentischen Lebens ein, sodass keine Fragen blieben. Für alles, von akademischem Schreiben bis zu spirituellem Wachstum, stellten sich Einrichtungen und Gruppen vor. Die Masterprogramme geben die zu belegenden Veranstaltungen weitgehend vor. Regelmäßige papers und exams sollen den Lernerfolg sichern: So groß Arbeitsaufwand und Leistungsdruck auch sein mögen – die Umwelt bahnt dort den Weg.

Die Uni sorgt dafür, dass keiner auf der Einführungsveranstaltung Löcher in die Luft gucken muss: „Jetzt habt ihr sicher noch Heimweh und sehnt euch nach euren Familien“, sagte einer der Redner vor einem Jahr, „aber bald schon werdet ihr Duke euer Zuhause nennen und Duke wird eure Familie werden.“

Ihr werdet aus Duke-Trinkflaschen trinken, könnte man ergänzen, und Duke-T-Shirts, Duke-Pullover, Duke-Hosen oder Duke-Flippflopps tragen. Auch vor dem Audimax in Erlangen war ein Friedrich-Alexander-Merchandising-Artikel-Stand aufgebaut und verkaufte Friedrich-Alexander-Klamotten. Das sah aus wie ein Versatzstück aus einer anderen Welt.

Natürlich habe ich auch ein Duke-Shirt gekauft und natürlich fand ich es lehrreich, interessant und toll, in den USA zu studieren. Aber ich komme gerne zurück: Hier nimmt die Uni nicht meine gesamte Zeit in Anspruch, verplant nicht meine ganze Woche und macht sich nicht meines ganzen Lebens anheischig. Nach den herkömmlichen Studienordnungen der meisten Fächer in Deutschland lassen sich mehr Veranstaltungen frei wählen. Mehr Zeit für Interesse und mehr Zeit für tiefe Auseinandersetzung und nüchterne Reflexion.

Die hiesigen Unis brauchen den amerikanischen Traum nicht träumen. Der hiesige Realismus muss nicht kippen in demotivierenden Zynismus gepaart mit Einzelteilen des US-amerikanischen Bildungssystems. Die kleinen Amerikas hier, die Master- und Bachelorstudiengänge, der Ruf nach einem deutschen Harvard, sind Versatzstücke aus einer anderen Welt: aus einer Universitätskultur gerissen, die man nicht kopieren kann. Wie der Erlanger Klamotten-Stand. An dem drängelten sich die meisten Studis denn auch vorbei – hin zur Theke mit Kitzmann-Freibier.