„Das Tabu scheint sich zu lockern“

Interview mit Ulrich Bielefeld vom Hamburger Institut für Sozialforschung über die Identifizierung „des Jüdischen“ als „Nicht-Nation“, über die Aufweichung des nachkriegsdeutschen Antisemitismus-Tabus und die „InstitutsMontage“

Interview: Andreas Blechschmidt

taz: Das Hamburger Institut für Sozialforschung widmet sich im Rahmen der „InstitutsMontage“ dem Phänomen des Antisemitismus. Gibt es aktuelle Hinweise für eine Zunahme antisemitischer Vorurteile in Deutschland?

Ulrich Bielefeld: Eine ziemlich komplizierte Frage, obwohl sie so einfach daherkommt. Ein Anstieg des Antisemitismus in Europa, nicht nur in Deutschland ist schon häufiger festgestellt worden. Wir haben eine Mischung an Problemen, die unter anderem mit neuen Religionsfragen und mit neuen Fragen der Weltpolitik zusammenhängen. In Deutschland können wir zunächst keine Zunahme an antisemitisch motivierten Gewalttaten feststellen. Die Behauptung bezieht sich für Deutschland also eher auf die häufigere diskursive Thematisierung des Problems. Mir geht es darum, dass es in Deutschland wieder möglich ist, antisemitisch zu argumentieren. Das Nachkriegstabu scheint sich zu lockern.

Sie haben sich ja schon in der Frühjahrsreihe der „InstitutsMontage“ mit dem Antisemitismus auseinander gesetzt.

In dieser ersten Reihe ging es um historische Grundlagen, das heißt für Deutschland um die Geschichte des nationalsozialistischen Antisemitismus. Und es ging um die empirische Frage, ob ein Anstieg zu beobachten sei und wie der heutige Antisemitismus aussehe. Häufig wird dabei auf die französische Situation verwiesen, die Michel Wieviorka bei uns in einem Vortrag dargestellt hat. In Frankreich ist es zu einer Häufung antisemitisch motivierter Gewalttaten gekommen, und es gibt eine öffentliche Debatte über den muslimischen Anitsemitismus.

Welchen Fragestellungen wird die aktuelle Vortragsreihe nachgehen?

Die aktuelle Reihe eröffnet mit einem Vortrag von Klaus Holz, der die These vertritt, dass der politische Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts mit Nationalisierung zu tun hatte. Neben dem Unterschied zwischen Nationen wurde eine Differenz zum Nichtnationalen aufgebaut, Juden wurden zu den exemplarisch Anderen. Die aktuelle Frage ist, ob der Antisemitismus sich mit dem Bedeutungswandel der Nation verändert. Werner Konitzer wird im Dezember über „Antisemitismus und Moral“ sprechen. Er stellt die Frage, ob es eine Moral des Nationalsozialismus gegeben hat, und ob sich Teile davon auch noch nach 1945 erkennen lassen. Julijana Ranc wird im Januar am Beispiel der Homann-Rede eine aktuelle Variante des Amalgams Antibolschewismus/Antisemitismus vorstellen. Und abschließend werde ich einige Überlegungen zum gegenwärtigen Antisemitismus darstellen. Es geht mir um eine genauere Beschreibung des Klimawechsels in Bezug auf das antisemitische Tabu. Ohne zu dramatisieren, muss ernst genommen werden, dass sich die Redeweise verändert hat.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Staat Israel als Projektionsfläche für antisemitische Vorurteile?

Es geht um gegenwärtigen Antisemitismus, und der bezieht sich selbstverständlich auf gegenwärtige Situationen und Bedingungen. Eine dieser Bedingungen ist sicherlich die Existenz und Politik des Staates Israel, das ist fast schon banal. In die aktuellen Auseinandersetzungen aber integrieren Antisemiten alte Muster.

Ist Ihre Reihe auch eine Intervention in die öffentliche Debatte um Antisemitismus?

Von einer Intervention zu sprechen, wäre mir zu viel. Aber es ist ein Angebot an die Hamburger Öffentlichkeit, sich darüber zu informieren, was hier im Institut gemacht wird. Für unsere Arbeit ist die Legitimation in der Öffentlichkeit wichtig. Dazu gehört das Reden und dann auch das Kritisiertwerden.

Eröffnung: 1.11., 20 Uhr: „Neuer Antisemitismus? Wandel und Kontinuität der Judenfeindschaft in Europa“, Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36