Die letzten Kombattanten

Der italienische Zeitungsjunge

Als Marcel Savonnet das erste Mal einem Deutschen begegnete, war der Krieg gerade aus. Es war in Aachen, und er war auf der Durchreise, an diesem Tag im November 1918. Er ging in ein Haus und fragte den Hausherrn, ob er die Marseillaise besitze. Er wollte den Deutschen nicht einschüchtern, er wollte einfach die Nationalhymne seines Landes hören. Der Mann hatte die Platte. Im nächsten Haus stieß der französische Soldat auf eine Frau. Sie rannte schreiend davon. „Sie dachte, ich wollte sie töten“, erzählt er, als ihm 85 Jahre später wieder eine Deutsche gegenübersitzt. Er freut sich darüber, dass sich jemand für seine Erinnerungen interessiert.

106 Jahre alt ist Marcel Savonnet. Er war ein „Poilu“, ein Bärtiger, wie die Franzosen ihre Soldaten im Ersten Weltkrieg in einer Mischung aus Ekel und Zärtlichkeit nannten. Er war einer von 8,5 Millionen jungen Männern, die an die Front gezogen sind – und von denen vier Jahre später 1,5 Millionen tot und mehr als 3 Millionen verkrüppelt waren. Marcel Savonnet hat überlebt. Und ist alt geworden. Heute gehört er zu der immer kleiner werdenden Gruppe von Erste-Weltkriegs-Veteranen. Nach dem letzten Stand sind es noch 36 in Frankreich. Der jüngste ist 102. Der älteste wird demnächst 110. Sie sind die letzten Zeitzeugen einer Katastrophe am Anfang des 20. Jahrhunderts. Wer ihre Stimmen hören will, muss sich beeilen.

Marcel Savonnet ist mit Krieg aufgewachsen. Schon sein Großvater hat 1870/71 gegen die Deutschen gekämpft. Er erzählte dem Enkel, wie er bei der Hungersnot in Paris Ratten gegessen hat. Es ist, als hätte er den Krieg geerbt. Später, im 20. Jahrhundert, hat der Enkel selbst dreimal Krieg gegen Deutschland geführt: „14/18“, im Ersten Weltkrieg. „39/40“, als er bereits Mitte 40 war und eine Frau und zwei halbwüchsige Söhne hatte und als die französische Armee überraschend schnell vor Hitler-Deutschland kapitulierte. Und danach in der Résistance, als er dem Aufruf von General de Gaulle zum Widerstand gegen die deutschen Besatzer folgte.

Kein Krieg hat ihn so geprägt wie der erste. Kein anderer verfolgt ihn bis in die letzten Tage seines Lebens. Immer noch wacht er nachts auf und muss sich selbst fühlen, muss sich betasten, um sicher zu sein, dass er noch da ist.

Jahrzehntelang konnte er nur mit Männern darüber sprechen, die selbst an dem Krieg teilgenommen hatten. Er tat es bei Familienfesten, wenn die Kinder schon spielten und die Frauen sich in die Küche zurückgezogen hatten. Erst seit Marcel Savonnet das Rentenalter überschritten hat, erzählt er auch Unbeteiligten davon.

Jetzt ist er in Troyes der letzte „Poilu“. An den Wänden seines Wohnzimmers hängen die Auszeichnungen für seine militärischen Leistungen. Seit er 100 wurde, nahm er mehrfach am 11. November an Zeremonien am Denkmal für die Toten teil, wie sie in ganz Frankreich abgehalten werden. Und immer noch kommen Schulklassen zu ihm. 16- und 17-jährige, die im Geschichtsunterricht über den „großen Krieg“ sprechen. Allen Besuchern, die zu ihm kommen, gibt er diesen Rat mit: „Krieg ist etwas Abscheuliches. Man weiß, wie er anfängt. Aber nie, wie er endet. Und er dauert immer länger als erwartet. Tut alles, um einen Krieg zu verhindern. Verhandelt. Schließt Verträge. Benutzt die UNO. Dafür ist sie da.“

Der alte Mann wohnt allein in einem Haus mit Garten im Städtchen Troyes in der Champagne. Morgens kommt eine Betreuerin, die für ihn putzt und kocht. Abends eine andere, die ihn ins Bett bringt. Manchmal ist auch sein 74 Jahre alter Sohn da, dem er die Textilfabrik vererbt hat und der jetzt auch längst in Rente ist. Wenn er allein ist, trägt Marcel Savonnet eine Alarmschelle um den Hals. Würde er den roten Knopf drücken, käme sofort ein Arzt. Gebraucht hat er diesen Knopf noch nie. Seine Routinebesuche beim Arzt verlaufen weiter unauffällig. Aber der Körper wird schwächer. Den großen Sessel im Wohnzimmer verlässt er nur noch selten. Und die Sehkraft lässt nach. Die Bilder werden verschwommen. Wenn er jetzt noch den Fernseher einschaltet, dann vor allem, um zu hören.

In den Monaten vor dem Waffenstillstand von 1918 hat Marcel Savonnet die Deutschen aus der Perspektive des Artilleristen kennen gelernt. Er hat sich freiwillig bei der Artillerie gemeldet. Aus Angst, um der Einberufung zur Infanterie zuvorkommen. Schon früh und zu Recht ist in der Zivilbevölkerung der Einsatz in den Schützengräben als besonders gefährlich bekannt. Dort, wo es Mann gegen Mann geht und wo an manchen Tagen mehrere tausend Männer fallen, nur um ein paar Quadratmeter zerstörtes Land in der einen oder anderen Himmelsrichtung zu erobern. Marcel Savonnet reitet auf dem Pferd durch den Ersten Weltkrieg. Die feindlichen Linien beschießt er aus einer 75-Millimeter-Kanone.

Was er empfand, wenn er schoss? „Nichts“, sagt Marcel Savonnet, „man hat gekämpft, weil es Pflicht war. Wenn Sie nicht töteten, dann wurden Sie getötet. Das war alles. Das Einzige woran man dachte, war, seine eigene Haut zu retten. Sonst dachte man an gar nichts.“ Er ist überzeugt, dass er Glück hatte. Immer wieder. Manche dieser Kriegserlebnisse mit Glück hat er oft erzählt. Wie von jener Nacht, als der Hauptmann ihn in einen Beobachtungsstand vor den ersten französischen Linien schicken will und als ein Leutnant die Sache auf den nächsten Morgen verschiebt, damit er sich nicht im Dunkeln verirrt.

Die romantischen Geschichten über angebliche Verbrüderungen zwischen den feindlichen Linien, wie sie heute häufig erzählt und geschrieben werden, glaubt Marcel Savonnet „nur zur Hälfte“. Er selbst hat nichts dergleichen erlebt. Lediglich bei Verdun, allerdings ein paar Kilometer hinter der Front, wo die Bauern noch ihre Acker bearbeiteten, hat er einmal gesehen, dass deutsche und französische Soldaten dieselben Wasserstellen benutzten. Zu unterschiedlichen Zeiten: „Man ließ einander gewähren.“

Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 kam für Marcel Savonnet zu früh. Nach vier Jahren Stellungskrieg auf französischem Gebiet hatte er endlich das Gefühl, dass es vorwärts geht. „Und es ging von ganz allein. Für die Deutschen war die Lage viel härter als für uns. Wir hatten noch Weißbrot, als sie längst Schwarzbrot essen mussten. Aber die deutsche Führung wollte unbedingt einen schnellen Waffenstillstand, um eine Revolution zu verhindern.“

Auch Jahrzehnte später, nach dem zweiten Krieg, nach dem Kampf im Widerstand gegen die Nazis, ist er zur Aussöhnung bereit. Als General de Gaulle, dem er in den Widerstand gefolgt war, kurz nach Kriegsende „mit Adenauer fraternisierte“, war Marcel Savonnet einverstanden. „Ich habe nie irgendetwas Persönliches gegen Deusche gehabt, nie etwas gegen das deutsche Volk“, sagt er, „bloß gegen die Dirigenten. Die haben uns auf die Schlachtfelder geschickt.“

Die Frau im Zugabteil ist neugierig. „Piccolo, wohin geht die Reise?“, fragt sie. „Ins Paradies“, antwortet der Junge. „Hoffentlich wird es keine Hölle“, sagt sie.

Es saß im Zug nach Paris. Lazarre Ponticelli war neuneinhalb und kam aus Italien. Er lebte allein. Nach dem Tode des Vaters war die Mutter nach Frankreich gegangen. Seine Geschwister hatte sie mitgenommen: die großen, weil sie schon arbeiten konnten; die kleinen, weil sie noch ihre Hilfe brauchten. Lazarre hatte sie in den ligurischen Bergen zurückgelassen. Er arbeitete als Viehjunge gegen Kost und Logis. Und fing Singvögel ein, die er auf dem Markt verkaufte. Er sprach den Dialekt der Bergbauern. In die Schule ging er nicht. Städte, Eisenbahnen, Elektrizität – kannte er nicht.

„Nehmen Sie die Metro bis zur Porte d’Italie. Dann überqueren Sie den Périphérique“, erklärt eine alte Männerstimme am Telefon den Weg, „dann hämmern Sie laut gegen meine Tür. Ich höre nicht mehr sehr gut. Aber ich werde Sie vom Fenster aus sehen.“ Lazarre Ponticelli hat das Reihenhaus in der Pariser Vorstadt Kremlin-Bicêtre 1920 bezogen, als er aus dem Krieg zurückkam. Dort hat er mit seiner Frau und seinen Kindern gelebt. Jetzt bewohnt er das zweistöckige Haus allein. Auf dem Tisch am ebenerdigen Fenster zur Straße liegt eine große Leselupe. Über den Armlehnen der Sessel hängen Häkeldeckchen. Eine Nachbarin bringt mittags das Essen. Sie passt auch ein wenig auf. Wenn Unbekannte vor seiner Tür auftauchen, kommt sie auf die Straße. „Pépé“ – Opa –, ruft sie dann: „alles in Ordnung?“

Wenn Lazarre Ponticelli erzählt, werden drei Jahrhunderte lebendig. Er kann Farben und Gerüche beschreiben und Gespräche wiedergeben, die längst vergangen sind. Sein Körper wird lebendig. Mittendrin springt der alte Mann trotz seiner 105 Jahre auf, um die Post aufzuheben, die der Briefträger durch die Haustür wirft. Dann bückt er sich, um einen Teppich glatt zu streichen. Auch seine Stimme wird frischer, je länger er erzählt: Vom Tag seiner Geburt, dem 7. Dezember 1897, als ein Sturm und zwei Meter hoher Schnee die Hütte seiner Familie von der Außenwelt trennten, und wie sein Vater erst drei Wochen später ins Tal hinabsteigen konnte, um den kleinen Lazarre auf dem Rathaus anzumelden. Von seinen Anfängen als Straßenkind an der Gare de Lyon in Paris und von dem Erdöl und dem Krieg zwischen George Bush und Saddam Hussein. Den Namen des Irakers spricht er ein bisschen undeutlich aus. Sehr lange erzählt Lazarre Ponticelli über die mysteriöse Krankheit und den frühen Tod seines Sohnes im Jahr 1936. Er hat Tränen in den Augen.

Es gibt nur ein Kapitel dieses langen Lebens, das er immer wieder überspringt: den großen Krieg. „Warten Sie, warten Sie“, mahnt er zur Geduld, „sonst stimmt die Abfolge nicht.“

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hat sich der kleine Italiener bereits eine Existenz in Paris aufgebaut. Zusammen mit einem Landsmann hat er Seile und Besen angeschafft und putzt Schornsteine. Daneben verkauft er die Zeitung L’Intransigeant auf der Straße. Sein Französisch ist schlecht. Lesen kann er auch noch nicht. Aber er weiß schnell Bescheid über alles, was geschieht. Und am 3. August erklärt Deutschland Frankreich den Krieg.

Als der Krieg beginnt, ist alles vorbei: Fast alle Italiener gehen zurück in ihr Land. Die französischen Männer ziehen an die Front. Frankreichs ziviles Leben kommt zum Stillstand. Schornsteinfeger, Markthelfer und Zeitungsverkäufer werden nicht mehr gebraucht.

Lazarre Ponticelli bleibt. Nach Italien, in das Land, in dem er gelitten hat, will er nicht zurück. Als seine Ersparnisse zu Ende sind, meldet er sich in der Kaserne Richard Lenoir in Paris. Dort braucht der Italiener ohne Papiere einige Überzeugungskunst, bis man ihn in die Fremdenlegion aufnimmt.

„Hass“ war nicht sein Motiv, sagt er. Auch nicht irgendein Gefühl gegen die Deutschen. „Ich hatte nichts gegen sie, ich kannte ja überhaupt keine. Ich musste nur von irgendetwas leben. Deswegen ging ich zur Armee.“

Der Soldat, der den Krieg erbte

Man schickte ihn auf die Schlachtfelder im Osten von Frankreich, wo die Deutschen in Rufweite gegenüber standen. Um sich herum sah Lazarre Ponticelli Menschen sterben. Aber das Gefühl der Angst will er nicht gekannt haben. „Ich wusste, dass ich im Krieg sterben konnte“, sagt er, „aber immerhin gaben sie mir zu essen.“

In den Argonnen hört er den Hilferuf eines verletzten Franzosen. Eine Granate hatte ihm ein Bein zerschmettert. Lazarre Ponticelli robbt zu dem Schwerverletzten und bindet das Bein mit seinem Kopftuch fest. Bevor er ihn in einen französischen Graben schleppt, sagt er: „Beiß die Zähne aufeinander. Wenn die Deutschen dich hören, sind wir beide geliefert.“ Der Mann tut wie ihm geheißen. Am Ende bringt er noch einen Satz hervor: „Danke für meine vier Kinder.“ Ob das Bein gerettet werden konnte, erfährt Lazarre Ponticelli nie. Er hat nie mehr von dem Mann gehört.

1915, als Italien auf alliierter Seite in den Krieg eintritt, wird Lazarre Ponticelli in Frankreich ausgemustert. Zwei Gendarmen bringen den widerstrebenden Italiener zurück in seine ungeliebte Heimat. So sieht es das Abkommen zwischen den beiden alliierten Militärführungen vor. Er kommt an die 600 Kilometer lange Frontlinie im Norden Italiens, an der bis zum Waffenstillstand 770.000 Österreicher und Italiener sterben. In Tirol lernt er die gasgefüllten Granaten kennen. Die Ersten haben keine Masken.

„Sie erstickten sofort“, sagt Lazarre Ponticelli, „wenn wir später ihre Leichen berührten, platzten sie.“ Man hat auch hier das Gefühl, dass die Erzählung ihn anstrengt, aber dass er das nicht zeigen möchte. Er will so viel erzählen, wie die letzte Zeit seines Lebens noch hergibt.

Ebenfalls in Tirol erlebt er eine Begegnung, die ihm besonders wichtig scheint. „Ein paar von unseren Leuten konnten sehr gut die Sprache der Österreicher. Sie haben ihnen einen Prospekt herübergeworfen und vorgeschlagen, aufzuhören, zu schießen. Statt zu schießen, haben die Österreicher uns Tabak rübergeworfen. Wir haben ihnen Brot gegeben. Das hat eine Weile geklappt. Aber als die Offiziere gemerkt haben, dass niemand mehr schoss, sind wir alle versetzt worden. Damit der Krieg weitergehen konnte.“

Hat Lazarre Ponticelli es bereut, in den Krieg gezogen zu sein? Der alte Mann schüttelt den Kopf: „Ich hatte überhaupt keine Wahl.“

An der norditalienischen Front, bei einem Einsatz am Monte Coco, wird Lazarre Ponticelli zum Helden wider Willen. Zusammen mit neun anderen „Alpini“ – Gebirgsjägern – liegt er in einem Graben in der ersten Frontlinie. Von allen Seiten gehen Kugeln auf die Gruppe nieder. Auch aus der eigenen, in den hinteren Reihen stationierten italienischen Artillerie. Am Ende sind neun Alpini tot, und Lazarre Ponticelli hat einen Granatsplitter im Kopf.

Er hat heute eine tiefe Einbuchtung an der linken Schläfe. An jenem Tag verballerte er weiter seine Munition aus dem Maschinengewehr. Obwohl längst kein Wasser mehr das Rohr des Gewehrs kühlte. Deswegen seien die Kugeln wenige Meter weiter auf den Boden gefallen. In jedem Fall tauchten plötzlich „250 oder 300 Österreicher“ mit weißen Fahnen und erhobenen Händen aus dem gegenüber liegenden Graben auf. Bevor Lazarre Ponticelli wegen seiner Gesichtsverletzung ins Lazarett nach Neapel gebracht wurde, erhielt er einen Dank für diese massive Gefangennahme.

Der Krieg ging für ihn erst 1920 zu Ende. Denn so lange behielten die Italiener ihn noch in der Kaserne: „Sie hatten auch nach dem Waffenstillstand Angst, dass es wieder losgeht.“ Sobald er frei war, kehrte Lazarre Ponticelli nach Frankreich zurück. Dort hat er sich mit seinen Brüder ausgesöhnt. Und zusammen mit ihnen ein Heizungsunternehmen gegründet. Im Jahr 2001 feierte das Ponticelli-Unternehmen 80-jähriges Bestehen. Als Unternehmer hat Ponticelli später auch die französische Staatsangehörigkeit bekommen.

Seine Erlebnisse in den Gräben hat er lange für sich behalten. Weder seine Frau, die aus dem französischen Norden stammte, noch seinen drei Kindern hat er davon erzählt. „Wozu darüber reden?“, fragt er. Aus den Schützengräben war er mit einer Überzeugung zurückgekehrt, an der er auch als alter Mann festhält: „Kriege werden immer von ein paar wenigen Leuten provoziert. Das sind Leute, die selber nicht dabei sind. Leute, die keinen Wert haben.“

Von den „Combattants“, den Veteranen der französischen Kriege, die überall im Land in Ortsgruppen organisiert sind und sich regelmäßig treffen, hat Lazarre Ponticelli Abstand gehalten. „Die erzählen immer wieder dieselben alten Geschichten“, sagt er. Freundschaften aus den Schützengräben hat er nicht mit ins zivile Leben zurückgenommen. Nur am 11. November ist er regelmäßig zum „Monument aux Morts“, zum Totendenkmal, gegangen. Als letzter „Poilu“ von Kremlin-Bicêtre wird er dort auch heute die Hauptperson sein.

Als „Patriot“ möchte Lazarre Ponticelli dennoch nicht missverstanden werden. „Wie kann man ein Patriot sein, wenn man einen Krieg gemacht hat, ohne zu wissen, warum?“, fragt der alte Mann. „Für mich ist das die einzige Wahrheit.“

Auch Joseph Gillmann war Soldat im Ersten Weltkrieg. Doch er ist kein „Poilu“. Und er wurde 1995 nicht vom französischen Staatspräsidenten in die Ehrenlegion aufgenommen. Denn er stand 14/18 auf der anderen Seite der Front. Der feindlichen. Der 20-Jährige wurde am 5. August 1914 von den Deutschen mobilisiert. Er musste für den Kaiser und gegen Frankreich kämpfen.

„Ich war unterwegs nach Buffalo“, hat er später seinen drei Kindern erzählt, „da haben sie mich geholt.“ Der junge Koch kam im Sommer 1914 von einer Anstellung in der Schweiz zurück und wollte weiter in den kanadischen Ort reisen, wo ihm ein Freund Arbeit besorgt hatte. Als er die Papiere beantragte, sagten die Deutschen: „Zuerst ins Militär.“

Erst vier Jahre später kam er zurück ins zivile Leben. In den deutschen Schützengräben hatte er mit einem Granatsplitter im Schädel überlebt. In seinem Hinterkopf steckt bis heute eine Metallplatte. Eine Verletzung, die ein Leben mit Kopfschmerzen bedeutete.

Ein Franzose in der deutschen Armee

Wie alle Elsässer seiner Generation war Joseph Gillmann als Deutscher zur Welt gekommen. Im vorausgegangenen Krieg von 1870/71 waren Elsass und Lothringen annektiert worden. Die meisten Soldaten, die der Kaiser in den beiden Regionen rekrutieren ließ, wurden an die Ostfront geschickt. Damit sie nicht auf Franzosen schießen mussten. Aber Joseph Gillmann blieb in Frankreich. An der Somme. Im 169. deutschen Infanterieregiment. Zwei Jahrzehnte später, im Jahr 1939, war er dort erneut Soldat. Dieses Mal auf französischer Seite gegen Deutschland.

Seinen Kindern hat Joseph Gillmann erst Jahrzehnte später Einzelheiten von seinem Krieg auf der falschen Seite erzählt. Er beschrieb ihnen, wie er durch das abgeknickte Fernrohr eines Periskops aus seinem Schützengraben sah, wie ein Freund in einem anderen Graben starb. Und er versicherte ihnen, dass er nie auf Franzosen geschossen habe. „Vielleicht liegt es daran“, sagte er, „dass ich immer noch lebe.“ Später trat er auch der Organisation der elsässischen Zwangsrekrutierten bei. Die „Malgré Nous“ erklärten ihren misstrauischen französischen Landsleuten, dass sie gegen den eigenen Willen als Soldaten auf der deutschen Seite gestanden hätten.

Die Kinder sind längst selbst Großeltern. Seine jüngste Tochter ist vor einigen Jahren ihren Enkeln nach Zentralfrankreich hinterhergezogen. Im Juli dieses Jahres hat der 108-jährige Joseph Gillmann sein eigenes Haus in Lothringen verlassen. Er schaffte die Treppe in den ersten Stock nicht mehr. Er tauschte die Blümchentapete und die Plüschsessel gegen die nackten Wände und die breiten Gänge in einem Altersheim. Jetzt schiebt er eine Gehhilfe vor sich her, wenn er von seinem Zimmer in den großen Aufenthaltsraum geht. Dort verbringt er seine Tage sitzend. Den Rücken zu dem Herbstwald, der gleich hinter der großen Fensterwand des Altersheims beginnt. Und neben dem laufenden Fernseher, in den er nicht mehr hineinschaut.

Ein paar Kilometer weiter westlich liegt die Kleinstadt Verdun, die 1916 völlig ahnungslos in das Zentrum des Kriegsgeschehens rückte. Auf einem 30 Kilometer breiten und 10 Kilometer tiefen Frontabschnitt wollte die deutsche Militärführung Frankreich schlagen. Binnen weniger Monate ließen dafür 337.000 Deutsche und 362.000 Franzosen ihr Leben. Manche menschlichen Reste und manche Waffen, mit denen Deutsche und Franzosen damals gegeneinander kämpften, liegen immer noch in dem Boden.

15 Autominuten weiter östlich von dem Altersheim liegt Deutschland. Die Landschaft bis zur Grenze ist unterkellert von militärischen Befestigungsanlagen. Von Tunneln und von Forts. Diese „Ligne-Maginot“ war nach dem Ersten Weltkrieg gebaut worden. Im Zweiten Weltkrieg erwies sie sich als untauglich angesichts des deutschen Ansturms. Heute stehen keine Kontrollen mehr an den Straßen, die ins Saarland führen.

Joseph Gillmann hat in dieser Landschaft sein Leben verbracht. Im „Münchner Löwenbräu“ in Metz hat er seine Frau Anne kennen gelernt. Sie war in die Schule gegangen, als Lothringen deutsch besetzt war. Und sie hat bis zu ihrem Lebensende vor zehn Jahren ihre Briefe auf Deutsch geschrieben. Aber sie war immer eine französische Patriotin. 1942, als Lothringen wieder in deutscher Hand war und als es wieder verboten war, Französisch auf der Straße zu sprechen, ließ sie das auch die Besatzer wissen. Daraufhin wurde die ganze Familie ausgewiesen. Die restlichen Kriegsjahre verbrachten die Gillmanns im Norden Frankreichs.

Er war zwar 14/18 kein „Poilu“, aber Joseph Gillmann hat trotzdem vergangene Woche einen Besuch vom örtlichen Vertreter des Pariser Staatssekretariats für alte Kämpfer in seinem Altersheim bekommen. Wie jedes Jahr wurde eine Rede gehalten. Und mit Champagner angestoßen. Aber erzählen will Joseph Gillmann nicht mehr. „Mich interessiert nichts mehr“, sagt er in dem gesungenen Französisch des Elsässers: „Ich bin zu alt.“ Und der Krieg, so fügt er hinzu, habe ihn nie interessiert: „Überhaupt nie.“