Dieser bestimmte Sound

Die Landschaft, das Dosenpfand, Herr Berg und 33 andere Stimmen: Der „Open Mike“ in der Berliner Literaturwerkstatt zeigte sich auch im elften Jahr als Schatzkästlein für literarische Nachwuchstalente

Man hat es leichter, wenn man weiß, was im Literaturbetrieb gerade angesagt ist

von SANDRA LÖHR

Auf den ersten Blick sieht es ja immer etwas langweilig aus. Eine Bühne, ein Tisch und ein Mikrofon. Alle 15 Minuten tritt jemand ins Rampenlicht, streicht seine zerknitterten Zettel glatt und versucht, das Publikum und die Jury von seinem Text zu überzeugen. Wenn die Geschichten gut sind, füllt die Lesung den Raum. Sind sie schlecht, dann kleben die Worte wie Blei an den Zetteln und schaffen es nicht in die Köpfe der Zuhörer.

Beim „Open Mike“, der an diesem Wochenende zum elften Mal stattfand, sind die Texte meistens gut und oft sind sie sogar so gut, dass es ein großer Teil von ihnen nicht nur in die Köpfe der Zuschauer schafft, sondern sich auch regelmäßig den Weg in den professionellen Literaturbetrieb bahnt. Denn der „Internationale Literaturwettbewerb Open Mike“ gilt als Nachwuchswettbewerb und „pfiffige“ Alternativveranstaltung zum Klagenfurter Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis und hat Autoren wie Kathrin Röggla oder Julia Franck dazu verholfen, ihre ersten Bücher bei Verlagen unterzubringen.

Zwar ist der große Boom der jungen, deutschsprachigen Literatur vorbei, aber die gefräßige Maschine namens Literaturbetrieb braucht auch in diesem Jahr Nachschub. und so gab die Backfabrik den passenden Ort für die Produktion von literarischen Hoffnungen ab. Im Publikum saßen die üblichen Verdächtigen: Redakteure, Literaturagenten und Lektoren, während die nüchternen Backsteine und die freiliegenden Rohre an der Decke den Produktions-Charakter der Veranstaltung unterstrichen. Dabei ist die Auswahl der jungen Debütanten frei von Verlagsinteressen oder Vitamin B. Die eingereichten Texte bleiben anonym. Die sechs Lektoren, alle von großen, namhaften Verlagen, wählen aus hunderten – in diesem Jahr waren es 529 – Bewerbungen ganze 18 Texte aus, ohne zu wissen, von wem sie stammen. Für die Juroren und das Publikum bedeutet dies, dass man beim Open Mike handverlesene Literatur präsentiert bekommt, die so etwas wie ein Blick in die Zukunft beschert. Bei einem Blick in die Biografien der Autoren zeigte sich aber, dass die meisten von ihnen keineswegs völlig unbeleckt sind. Viele studieren zumindest Germanistik, einige besuchen das Literaturinstitut in Leipzig oder den Studiengang Kreatives Schreiben in Hildesheim, wieder andere haben schon wichtige Nachwuchspreise gewonnen, leiten Schreib-Workshops oder geben Literaturzeitschriften heraus. Das spricht einerseits für das Gespür der Lektoren, andererseits dafür, dass es auch in der Literatur gewisse Moden gibt und man es einfach leichter hat, wenn man weiß, wie man den Sound trifft schreibt, der im Literaturbetrieb gerade angesagt ist.

Auffällig wurde das gleich zu Beginn des ersten Tages, an dem Sünje Lewejohann und Nora Bossong ihre Texte hintereinander weg lasen. Neben ihrem Bezug zur norddeutschen Landschaft, ähnelte sich auch der elegische Stil der beiden Arbeiten ziemlich. Die Sätze, kurz und schnörkellos, sollten einfach nur das beschreiben, was da war, und konnten doch allerhand bedeuten – ganz so, wie man es heute in Literaturkursen lernt. Und obwohl beide Geschichten wirklich gut gemacht waren, wurde man die Ahnung nicht los, wie sich wirklich gute Literatur anhören könnte, wenn sie denn bloß etwas zu sagen hätte. Die Sätze hören sich schön an, aber auch wie schon tausend Mal gehört und gelesen, und so musste man bis zum zweiten Block an diesem Nachmittag warten, der zunächst mit Stefanie Mocks Mundartstück „So ischt es“ die Grenze von Lesung und Kabarett sprengte. Ihre 15 Minuten gerieten dabei fast zu einem kleinen Einpersonenstück. Während sich die meisten Autoren darauf beschränkten, ihre Texte einfach herunterzulesen, löste ihr Vortrag den performativen Anspruch einer Literaturlesung ein und wurde begeistert beklatscht. Gleich danach las Petra Lehmkuhl dann eine wunderbar schnoddrige, aber auch traurige Geschichte über Frank, einen Bayer, der sich weder mit den Meeren noch mit der Liebe auskennt und dem die Ich-Erzählerin eine Karte von der Ostsee schreibt: „greifswald, eine stadt kriegt aufs maul. schöne grüße von der ostsee, leider ist ebbe. (und er glaubt es. Idiotie der bergvölker.)“

Das Letzte, was Lehmkuhls Heldin von Frank zu sehen bekommt, ist, wie er seine ausgetrunkenen Bierdosen in ihrer Wohnung aufsammelt und sie wieder mitnimmt. „Dosenpfand“ hieß die Geschichte und langweilte weder mit kurzen, bedeutungsschwangeren Sätzen noch mit einem allzu klaren, logischen Aufbau, sondern schlug einen eigenen, experimentierfreudigen Tonfall an und gewann später zu Recht den Open-Mike-Preis.

Die Männer hatten es auf diesem Open Mike dagegen schwer – ebeso wie die Autoren, die dem Publikum Lyrik darboten. Am Ende standen drei Frauen und ihre Kurzgeschichten auf dem Siegertreppchen. Neben Petra Lehmkuhl gewann taz-Kolumnistin Kirsten Fuchs mit „Die Titanic und Herr Berg“, in der sie sehr trocken und mit anarchischem Witz den Tagesablauf eines desillusionierten Sozialarbeiters beschrieb, der gleichgültig die Tricks seiner Schäfchen durchschaut und sich fragt, ob man in dem vom Sozialamt gesponserten Kinderwagen besser Zigaretten schmuggeln kann. Veronika Reischl war mit ihren „33 funktionierenden Maschinen“ die dritte Gewinnerin und setzte mit ihrer genau beobachteten Zersplitterung eines Subjekts in 33 verschiedene Stimmen einen schönen Kontrapunkt zu den Texten von Petra Lehmkuhl und Kirsten Fuchs.

In den nächsten Jahren wird sich allerdings zeigen, ob eine Vielfalt von Texten wie die, die auf dem Open Mike präsentieren werden, es noch in die Verlagshäuser schaffen werden. Nicht nur die frisch gebackenen Autoren werden längst nicht mehr so belagert wie früher, auch die Organisatoren des Open Mike müssen sich nach einem neuen Sponsor umsehen. Die Preußische Seehandlung, wichtigster Geldgeber, wird sich in den nächsten fünf Jahren nach und nach aus der Förderung des Nachwuchswettbewerbs zurückziehen. Damit soll den Veranstaltern genug Zeit gegeben werden, neue Geldquellen aufzutun. Degressive Förderung nennt man das. Hoffentlich wird es nicht bald der gesamten Nachwuchsförderung so ergehen.