Weinen tut manchmal gut

Mitarbeiterinnen des Ricam-Hospizes und Fünftklässler einer Neuköllner Grundschule beschäftigen sich eine Woche lang mit Fragen von Tod, Trauer und Trost. Die Kinder arbeiten ihre traurigsten Erlebnisse auf und trösten einander

Singend schließen die Schüler die Woche ab, in der sie viel über Tod und Traurigkeit geredet und geweint haben. Ein Seil, aus verschiedenen bunten Bändern zusammengeknüpft, wandert von Kinderhand zu Kinderhand und wird dann hochgehoben. „Der Himmel geht über Natalie auf, auf Elvira über, über Sidney auf“, singen die Kinder so lange, bis alle ihre Namen durch sind. Dann werden die Knoten gelöst. Die meisten der Neun- bis Elfjährigen haben selbst einen Knoten in ihrer Seele – fast alle haben schon jemanden verloren, sei es ein Familienmitglied oder ein liebgewonnenes Haustier.

„In den ersten zehn Lebensjahren hat die Mehrheit der Kinder schon die ersten Erfahrungen mit Tod gemacht“, erklärt Projektleiterin Renée Puhlmann vom Neuköllner Ricam-Hospiz. Die weltweite Hospizbewegung setzt sich für würdevolles Sterben ein und betreut durch ihre Einrichtungen sowohl Schwerstkranke als auch ihre trauernden Angehörigen. Dazu gehören oft auch Kinder. „Wenn die Eltern selbst über ihre Trauer hinwegkommen müssen, können sie ihren Kindern schwer Trost bieten“, erzählt Puhlmann. „Dabei möchten wir sie unterstützen.“

Nun weiteten die Hospizmitarbeiterinnen ihr Engagement auch auf Kinder außerhalb der Pflegeeinrichtung aus und starteten das Projekt „Hospiz macht Schule“. Eine Woche lang wollten sie mit Fünftklässlern zweier Schulen über Tod, Krankheit, Leid und Trost reden – eine Premiere in Berlin. Allerdings haben nicht alle Eltern das Angebot auch mit Kusshand angenommen: Eine der beiden Schulen musste nach Einsprüchen der Eltern ihre Teilnahme wieder zurückziehen.

Bei der Abschlussfeier in dem bunt gestalteten Raum der Grundschule am Regenweiher am Freitag erscheint das Verhältnis zwischen Eltern, Hospizmitarbeiterinnen und Kindern harmonisch: mitgebrachter Kuchen, Danksagungen, kleine Geschenke zum Abschied. Alle Gäste sind gespannt, was die Kinder über die gemeinsame Woche zu berichten haben. Bunte selbstgestaltete Plakate, Luftballons und Papierwolken, auf denen die Kinder ihre traurigsten und schönsten Erlebnisse verewigt haben, hängen an den Wänden und von der Decke herunter.

Ihre Traurigkeit haben die Kleinen hinter sich gelassen, schließlich geht es an diesem letzten Tag um das Thema „Trost und Trösten“. Noch zwei Tage davor hat es aber ganz anders ausgesehen, wie Sidney berichtet: „Als wir über Sterben und Tod gesprochen haben, da habe ich viel geweint. Ich musste an meinen Kater denken, der gestorben ist. Das war ganz schwer für mich.“ In solchen Momenten durften die Kinder aus der Klasse rausgehen und ihrer Trauer Luft machen, aber auch Trost bei den Hospizmitarbeiterinnen suchen.

„Es ist ganz wichtig, dass die Kinder einen Raum zum Weinen und Trauern haben“, meint Renée Puhlmann. „In unserer Gesellschaft wird das Thema Sterben in die Ecke geschoben, Leute meiden es lieber.“ Dass weinen und über seine Traurigkeit reden guttut, bestätigen auch die Kinder. „Meine Oma ist gestorben“, erzählt Celine. „Erst hier konnte ich richtig darüber sprechen.“ Geweint habe sie auch. „Aber ich finde es gut, dass wir das gemacht haben“, meint die Neunjährige.

„Die Beschäftigung mit Tod war sehr emotional, aber trotzdem war die Zeit auch schön“, berichtet eine Mitarbeiterin vom Ricam-Hospiz. „Die Gruppe ist unheimlich zusammengewachsen, die Kinder haben sich umarmt und getröstet.“ Zum Trost gehöre auch die Frage nach einem Leben nach dem Tod. „Wir hatten Christen und Moslems in der Gruppe, die überzeugt waren, dass die Seele weiterlebt und zu Gott wandert“, sagt sie. Am schwierigsten sei schließlich die Vorstellung, dass es nach dem Tod aus ist – und nicht nur für die Kinder. ADÉLA JUREČKOVÁ